Die Kino-Kritiker

«Victoria»: Ein Triumph des deutschen, digitalen Filmemachens

von

Film des Monats: 140 Minuten ohne einen einzigen Schnitt! Regisseur Sebastian Schipper nimmt das Publikum in «Victoria» mit durch eine unvergessliche Berliner Nacht.

Filme, die so wirken, als seien sie (nahezu) ohne Schnitt gedreht

  • «Cocktail für eine Leiche»
  • «Timecode»
  • «Russian Ark»
  • «La Casa Muda»
  • «Birdman»
Obwohl digitale Kameras in der Kinoindustrie mittlerweile zum Standard geworden sind, sind es ungebrochen die analogen Kameras, die große Passionen wecken. Egal ob Quentin Tarantino, Christopher Nolan oder Martin Scorsese: Zahlreiche fähige, namhafte Regisseure schwören darauf, ihre Bilder auf Film zu bannen. Das Ergebnis sei nicht zwingend realitätsnäher, aber ästhetischer, magischer und kunstvoller. Wenn Filmemacher digitale Kameras loben, so hat dies indes zumeist nur praktische Gründe: Mit ihnen ließe es sich schneller und einfacher arbeiten. Mitunter haben sie den Stand eines aufgezwungenen Werkzeugs, mit dem man sich langsam arrangiert – wiederholt kommt es zu Aussagen von Regisseuren und Kameraexperten, nach denen digital gedrehte Filme mittlerweile ja auch fast schon so aussehen würden, wie klassisch gedrehte Filme. Daher sei der Wechsel von der einen zur anderen Technik ja nicht mehr so schlimm.

Dabei brachte die digitale Kameratechnologie der Filmkunst ausreichend Gutes, dass sie solch eine stiefmütterliche Behandlung nicht verdient hat. Der zuletzt vorherrschende Mangel an wirklicher, von der künstlerischen und nicht etwa von der praktikablen Seite der Dinge ausgehender Begeisterung, könnte daher rühren, dass diese Technologie schon länger nicht mehr mit einem auffälligen Triumph aufwarten konnte. Mit «Victoria» endet das Warten allerdings. Denn dieser Film wäre ohne digitale Kameratechnik nicht möglich gewesen: Dieser Geniestreich, ausgerechnet aus der in Sachen Kino gern so spröde und ideenlos auftretenden Bundesrepublik Deutschland, wurde komplett am Stück gedreht. 140 Minuten ohne Schnitt, ohne Pause – und anders als bei «Birdman» ohne Tricksereien. Was Alejandro González Iñárritu und Emmanuel Lubezki mit ihrer Showbiz-Satire bloß vorgegeben haben, machten Regisseur Sebastian Schipper und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hier tatsächlich. Dass «Victoria» in nur einem einzigen Take gedreht wurde, ist aber nicht nur eine logistische Glanzleistung und eine eindrucksvolle Vorführung der Möglichkeiten digitaler Kameras. Bei diesem Genrehybriden verschmelzen der Inhalt und das Formale zu einer im wahrsten Sinne des Wortes überwältigenden Einheit.

Es beginnt in einem Club, irgendwo in Berlin: Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) arbeitet seit kurzer Zeit in der deutschen Hauptstadt als Kellnerin, hat bislang keinerlei Kontakte knüpfen können, und tanzt allein durch die Nacht. Als sie wenige Stunden vor dem Morgengrauen den Club verlässt, begegnet sie vier betrunkenen jungen Männern, die am Straßenrand gerade Unfug anstellen. Victoria und Sonne (Frederick Lau) kommen trotz der sprachlichen Hürden direkt ins Gespräch, und so folgt die Einsame ihm und seinen Freunden Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) durch die Straßen der Metropole. Zunächst scheint sich dieses unerwartete Aufeinandertreffen zum romantisch-ruhigen Nachglühen einer langen Partynacht zu entwickeln. Doch als sich Boxer auf eine krumme Sache einlässt, nimmt diese Großstadtanekdote eine aufreibende Wende …

Um direkt die einzige nennenswerte Schattenseite von «Victoria» anzusteuern: Wie es Spielfilme, die den Geist und die Attitüde eines Milieus atmen, nun einmal an sich haben, versucht auch Schippers Berlin-Porträt einen kleinen Drahtseilakt. In diesem Fall geht es ganz spezifisch darum, das Publikum für die Tunichtgute zu erwärmen, mit denen sich Victoria und Sonne herumtreiben. Leider gehen die Darsteller, die ihre Dialogpassagen weitestgehend anhand von Improvisationen bestreiten, aber all zu sehr in ihren Rollen spätpubertierender Berliner Chaoten auf. Ohne ausgefeiltes Dialogbuch sind Boxer, Fuß und Blinker zuweilen arg davon abhängig, ob der Zuschauer von sich aus ein Faible für diese Zeitgenossen, ihren Lebensstil und ihre Weltsicht aufbringen kann. Sie sind zwar authentische Typen, aber auch nahezu ohne dramatugisch-narrative Hilfestellung. Wer also schon in den ersten Augenblicken seine Probleme mit dem Trio hat, dem werden diese Nebenfiguren aufgrund des rudimentären Skripts auch nicht später im Film etwas bedeuten. Und wer sich mit ihnen identifizieren kann, der kann dies primär aufgrund dessen, dass sie einen bestimmten Typus darstellen – eine große inhaltliche Leistung stellen Sonnes Freunde also so oder so nicht dar. Je nach persönlicher Einstellung sind sie halt nur obendrein anstrengend.

Da Boxer, Fuß und Blinker allerdings nur sehr selten die Aufmerksamkeit von Victoria und ihrer Zufallsbekanntschaft ablenken, fällt die durchwachsene Ausarbeitung dieses Dreiergespanns nur minimal ins Gewicht. Bei den Figuren, auf die es ankommt, brilliert dieser außergewöhnliche, filmische Städtetrip wiederum in einer Tour: Mit einem aufgeweckten, neugierigen und abenteuerlustigem Blick saugt Laia Costa in der Titelrolle das Geschehen förmlich auf. Und mit ihrem schmalen Lächeln sowie einem nahezu unsterblichen Willen, alles so zu nehmen, wie es kommt, wird sie gleichermaßen zur guten Seele als auch zur Antriebsfeder dieses Films. Die Gefahr, dass sie somit zu einer unausgearbeiteten Männerfantasie verkommt, ist glücklicherweise nicht gegeben: Wenn sich Victoria zwischenzeitlich ungestört mit Sonne unterhalten kann, lässt sie kurz, aber effektiv in eine komplexe Seele blicken – und eben diese in ihr schlummernde Unberechenbarkeit gewinnt im letzten Drittel dieses cineastischen Ritts exponentiell an Bedeutung.

Der unter anderem aus «Die Welle» bekannte Frederick Lau behauptet sich indes als perfekte Besetzung für dieses bemerkenswerte Kinoexperiment. Zu gleichen Teilen protzig und unbeholfen, in einem haarsträubend-liebenswerten Wust aus Deutsch, Englisch, Denglish und Berlinerisch radebrechend gibt er eine markante Type ab, die sich aber im Gegensatz zu ihren Freunden nicht nur aus ihrer Selbstdarstellung nährt. Wie Sonne nach und nach seinem Gelegenheitsflirt verfällt und immer verzauberter dreinblickt, ist pures cineastisches Gold – und ein erster Beleg dessen, dass die technische Umsetzung von «Victoria» mehr als ein bloßes Gimmick darstellt. Dadurch, dass die vom Norweger Sturla Brandth Grøvlen mühevoll durch 22 Locations geschleppte Kamera den Turteltauben auf Schritt und Tritt folgt, und dabei wie im wahren Leben mal näher rückt und mal deutlich hinterherhinkt, wird der Zuschauer zum beiläufigen Augenzeugen einer sich entfaltenden, naiven Romanze. In Echtzeit und ungekünstelt.

Damit aber noch nicht genug: Sobald die Fünfertruppe in miese Machenschaften verwickelt wird, bestünde in einer Produktion mit konventioneller Bildsprache die Gefahr, dass der Genrewechsel wie ein Einschnitt wirkt und so den ausführlichen Aufbau zugrunde richtet. Durch die wenige Atempausen erlaubende, den Betrachter mitten ins Geschehen versetzende Herangehensweise Schippers fesselt «Victoria» dank seiner Abkehr ins Krimigenre dagegen nur umso mehr. Nun kennen wir die Protagonisten, sind zumindest zweien von ihnen verfallen, also gilt es ab sofort, mitzufiebern, wenn sie sich ungewollt und ungeahnt in großen Schwierigkeiten wiederfinden. Beide Gesichter dieses Films profitieren daher voneinander: Die so authentische, alltägliche Beziehung zwischen Sonne und Victoria erhält durch den spektakulären Schlussakt eine besondere, denkwürdige Note – einen Hauch Gangsterromantik. Und der Krimi-Aspekt wird durch das lange Vorspiel realer, lässt den Zuschauer stärker mitfühlen. Es gibt Dutzende, vielleicht Hunderte stylische Kriminalfilme, die Spaß machen. «Victoria» versetzt einen wiederum mitten in die Lage jener Menschen, die mit einem Schlag in eine ihnen unbequeme Tat verwickelt werden. Und durch die nie ganz perfekt durchgeplante, aber sehr wohl unentwegt perfekt ihre Wirkung entfaltende Kameraarbeit ist man selbst im Kinosessel nicht sicher: Orientierungsverlust und Kurzatmigkeit sind nahezu garantiert.

Nach 140 Minuten mit zunehmender Hektik und Dramatik ist man dann völlig platt. Und glücklich. Glücklich, dass man diese Nacht überstanden hat. Glücklich, dass man sich im sicheren, überschaubaren Kinosaal befindet. Und glücklich, dass der deutsche Film fähig ist, solche Sensationsleistungen abzuliefern.

Fazit: Überwältigend, mitreißend, einzigartig. «Victoria» ist ein Kino-Trip, den man einfach mitgemacht haben muss!

«Victoria» ist ab dem 11. Juni 2015 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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