Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir einer unterschätzten Sendung, die einem ganzen Genre den Weg ebnen sollte.
«0137 Night Talk» wurde am 07. Mai 1993 auf Premiere geboren und bildete die Ergänzung zum werktäglichen Überraschungserfolg «0137», welcher dem Pay-TV-Anbieter seit dem Frühjahr 1991 großes Aufsehen und eine Auszeichnung mit dem Grimme-Preis beschert hatte. Obwohl der Ableger einen ähnlichen Namen trug und im Kern ebenfalls eine Talkshow war, unterschied er sich dennoch stark von seiner großen Schwester. Während Roger Willemsen und Sandra Maischberger am Vorabend mit ihren Gästen zu aktuellen und kontroversen Themen von Angesicht zu Angesicht sprachen, erfolgte dies beim Night Talk lediglich via Telefon und meist ohne gesellschaftlich-politischen Bezug. Stattdessen waren die heimischen Zuschauer aufgerufen, sich einzubringen und ihre persönlichen Geschichten und Meinungen mitzuteilen. Dadurch hatte man das Element der Zuschauerbeteiligung, das sich beim Schwesterprogramm auf Abstimmungen über die Auswahl kommender Gäste beschränkte, nun erweitert und ins Zentrum des neuen Konzepts gestellt.
Wegen der Namensgleichheit zur Vorlage wurde das Format oft als unbedeutendes Anhängsel unterschätzt, obgleich es ein großes innovatives Potential enthielt. Schließlich kann es als erste Variante dafür angesehen werden, was heute unter dem Begriff „Call-In-Show“ verstanden wird. Sicherlich, der Grundgedanke, Telefonate mit dem Publikum vor Publikum zu führen war nicht neu, denn er hatte seinen Ursprung in den sogenannten „Talk Radio Shows“, die erstmals in den 1940er Jahren im amerikanischen Radio aufkamen. Selbst in Deutschland plauderten bereits seit 1952 Walther von Holländer und später Erwin Marcus im Hörfunk des NDRs öffentlich mit ihren Anrufern. Ab Februar 1987 tat dies Erika Berger in ihrem Klassiker «Eine Chance für die Liebe» sogar vor laufenden Kameras. Und doch war der Night Talk anders. In den beiden vorangegangenen deutschen Vorgängern stand nämlich stets eine Lebens- bzw. Partnerschaftsberatung im Vordergrund. Es riefen dort also Menschen an, die Probleme hatten und hofften, sie durch die Ratschläge der vermeintlichen Experten gelöst zu bekommen. Dies stand bei dem neuen Ansatz von Premiere nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr sprachen Menschen über ihre Haustiere, ihre Lieblingsfernsehserie oder andere Alltäglichkeiten. Ohne Thema, ohne Zielrichtung, ohne Vorgaben und ohne anschließend belehrt zu werden. Einfach um des netten Gesprächs willen.
Dass dies nie zu flach, zu banal oder zu langatmig geriet, war der Moderatorin Bettina Rust zu verdanken, für die diese Aufgabe das erste Engagement im Fernsehen darstellte. Sie redete (meist bei einer Zigarette) mit ihren Anrufern und Anruferinnen über alles, was ihr diese anboten und was sie selbst für interessant hielt. Dabei feuerte sie die Unterhaltungen mit ihrer oft flapsigen und manchmal ungeduldigen Art entweder an oder beendete sie abrupt, wenn sie das Interesse verlor. Gerade ihr souveränes, ehrliches und (für damalige Verhältnisse) erfrischend unangepasstes Verhalten bildete die eigentliche Faszination der Reihe, die ihr bald eine treue Fangemeinde bescherte. „Es gibt komischerweise immer noch Leute, die mich auf die Sendung ansprechen“, offenbarte sie im Sommer 2014 gegenüber Spiegel Online.
Neben der Möglichkeit, per Festnetz über die Nummer 0130 – 85 0137 anzurufen - wobei die letzten vier Ziffern als Pate für den Titel standen - konnte sich das Publikum ebenso via Fax und via Datex-J mitwirken. Hinter letzterem verbarg sich eine Variation des Bildschirmtextes (BTX), den die Deutsche Post bzw. die Telekom zu jener Zeit versuchte zu etablieren. Er kann rückwirkend als eine Art Vorläufer des Internets eingestuft werden, weil mit ihm Nachrichten über die Telefonleitung versandt und anschließend auf einem Fernsehschirm angesehen werden konnten. Während der Live-Ausstrahlung waren die kurzen Botschaften dann als Text-Einblendung für die Zuschauer lesbar. Eine damals moderne Technik, die Bettina Rust offenbar nie richtig verstanden hatte, weil sie deren Erklärung regelmäßig mit dem Hinweis umging, dass die betreffenden Menschen sowieso wissen, wie es funktionieren würde. Wegen dieser technischen Spielerein und vor allem ihrer offenen Form wurde das Ergebnis zuweilen weniger als Talkshow, sondern eher als moderierter Chat beschrieben.
So simpel die zugrundeliegende Idee war, so reduziert kam dessen Look daher. Rust saß hinter einem dunklen Schreibtisch im mäßig beleuchteten, gläsernen Turmgebäude eines Hafen-Hotels. Im Hintergrund flimmerte die Silhouette von Hamburg durch die Fenster und auf dem Tisch ein Bildschirm, auf dem die wartenden Anrufe aufgelistet waren. Damit die schlichte Kulisse trotzdem reizvolle Bilder bot, kreisten in dem winzigen Raum eine Steadicam sowie eine Krankamera um den Tisch. Anfangs stand in den Nächten von Freitag auf Samstag jeweils ab Mitternacht eine halbe Stunde für die abwechslungsreichen Dialoge zur Verfügung, doch schon bald wurde die Laufzeit auf 45 Minuten erhöht. Wie seine große Schwester lief der Night Talk unverschlüsselt über die Pay-TV-Plattform und konnte auf diese Weise auch von Nicht-Abonnenten angesehen werden.
Obwohl sie kein Millionenpublikum anzog, öffnete die kleine Produktion die Tür für eine ganze Gruppe von Sendungen, die sehr ähnlich funktionierten und ab Herbst 1993 das deutsche Fernsehen überfluteten. Den Anfang machte der ehemalige RTL-Star und spätere «Was bin ich?»-Gastgeber Björn-Hergen Schimpf, der für die ARD bei «Schimpf 19717» im werktäglichen Nachmittagsprogramm harmlose Gespräche mit seinen Anrufern führte. Nur zwei Monate später folgte auf VOX mit «Talkline» eine weitere Nacht-Version, die vor allem deshalb auffiel, weil der Talkmaster Thomas Aigner in ihr manchmal eher fragwürdige Tipps gab. Im Januar 1994 schickte dann RTL gleich zwei Versuche dieser Art auf den Schirm – einerseits die absichtlich-provokante Show «Nachts!» mit Britta von Lojewski und andererseits das tägliche Vorabendexperiment «Achtzehn 30 – Das Telefon-Thema», in dem sich Anrufer öffentlich echauffieren oder aufregen durften und währenddessen vom Moderator Joachim Steinhöfel angepöbelt wurden. Beide Fassungen fanden jedoch keinen großen Zuspruch und verschwanden nach wenigen Wochen wieder.
Erst mit «Domian» im April 1995 beim WDR und «Lämmle Live» ab 1996 im SWR folgten zwei Formate, die sich mehrere Jahre halten konnten. Im Fall von «Domian» sollten es sogar über 20 werden. Bei beiden standen aber Beratung und Lebenshilfe wieder stärker im Vordergrund - bei «Lämmle Live» mehr als bei «Domian». Zum Zeitpunkt deren Entstehens hatte sich Premiere allerdings längst von Bettina Rust und ihrer wegweisenden Call-In-Show getrennt, da das Unternehmen mittlerweile genug Abonnenten angelockt hatte und sich derartige luxuriöse Werbeaktionen nicht mehr leisten brauchte.
«0137 Night Talk» wurde am 30. Dezember 1994 beerdigt und erreichte ein Alter von anderthalb Jahren. Die Show überlebte damit ihre Vorlage um zehn Monate. Sie hinterließ die Moderatorin Bettina Rust, die anschließend durch die TV-Talks «Lifeguide» und «Ultima» bei Kabel 1 und tm3 führte, bevor sie aus dem Rampenlicht heraustrat und als Redakteurin und Sprecherin beim «Sat.1 Frühstücksfernsehen» arbeitete. Ab 2002 übernahm sie zusätzlich die Radiosendung «Hörbar Rust» bei Radio eins vom RBB, für die sie viel Lob und einige Auszeichnungen ernten konnte. Im Herbst 2005 kehrte sie kurzfristig als Gastgeberin des genauso ambitionierten wie erfolglosen Sat.1-Prestigeprojekts «Talk der Woche» für kurze Zeit vor die Kamera zurück. Bis zum Sommer 2013 tauchte sie bloß noch gelegentlich im Fernsehen auf. Aktuell präsentiert sie die Interview-Reihe «Stadt, Rad, Hund» im RBB-Fernsehen, in der sie bekannte und weniger bekannte Berliner trifft.
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 01. Oktober 2015.