Filmfacts «Beasts of No Nation»
- Regie und Kamera: Cary Joji Fukunaga
- Prouktion: Amy Kaufman, Cary Joji Fukunaga, Daniela Taplin Lundberg, Riva Marker, Daniel Crown, Idris Elba
- Drehbuch: Cary Joji Fukunaga, basierend auf dem Buch von Uzodinma Iweala
- Darsteller: Idris Elba, Kurt Egyiawan, Abraham Attah, Grace Nortey
- Musik: Dan Romer
- Laufzeit: 136 Minuten
In den Augen von Ted Sarandos, Netflix-Chef in inhaltlichen Fragen, ist dies ein überfälliger Angriff auf eines der letzten Heiligtümer im Mediengeschäft: „Jedes einzelne Medium wurde vom Internet verändert – Bücher, Fernsehen, Musik; alles, bis auf das Verwertungsfenster für Kinofilme“, statuierte er im Branchenmagazin 'Variety'. So ganz kann man seine Aussage nicht unterstreichen: Der zeitliche Abstand zwischen Kinoauswertung und DVD-, Blu-ray- sowie VoD-Start eines Films schrumpft in den USA bereits seit Jahren. Waren einst sechs Monate die Norm, sind nunmehr schlappe 90 Tage üblich. Mit Filmen wie «Beasts of No Nation» und «Tiger & Dragon 2» möchte Sarandos nun Parallelstarts salonfähig machen – wobei viele Länder, darunter Deutschland, nur über VoD in den Genuss von «Beasts of No Nation» kommen. In den USA wurde der bewusste Verzicht, Kinos bei diesem Film ein Vorrecht zu gewähren, von vielen Branchenvertretern mit harscher Kritik begrüßt: Vier große Kinoketten sowie der Bundesverband der Kinoeigentümer NATO boykottieren die kompromisslos erzählte Geschichte und laufen in den Medien Sturm gegen Netflix, weil sie ihre Existenz bedroht sehen.
Ob VoD Kino tatsächlich völlig ersetzen kann und ob überhaupt sämtliche Studios willens sind, jegliche Art von Filmen künftig sofort bei Netflix zur Verfügung zu stellen, ist eine Frage, die an anderer Stelle diskutiert werden sollte. Zumal in dieser Angelegenheit eh nur spekuliert werden kann. Fakt ist aber, dass selbst der Regisseur von «Beasts of No Nation» es bevorzugt, wenn seine bildgewaltige Arbeit im Kino bestaunt wird. Laut diversen Interviews willigte er dem Deal mit Netflix nur ein, wenn ihm das Unternehmen nicht nur künstlerische Freiheit einräumt, sondern auch eine Kinoauswertung garantiert. Für deutsche Filmfreunde, die «Beasts of No Nation» gar nicht in einem Lichtspielhaus erleben können, wird der Film daher eine bittersüße Erfahrung sein. Denn Fukunagas Kino-Sehnsucht ist bei dieser Gänsehaut erzeugenden Produktion keine reine Ego-Sache, sondern ganz und gar gerechtfertigt: Das smarte Skript erzählt eine packende Geschichte, die in beeindruckenden Bildern illustriert wird, bei denen es eine Beleidigung wäre, sie auf mobile Endgeräte zu bannen, und bei denen selbst große Flachbildfernseher den letzten Kick missen lassen. Dieser Film gehört auf die große Leinwand!
Wir befinden uns irgendwo im Westen Afrikas: Ein Bürgerkrieg plagt die Nation, aber bislang hat der junge Agu (Abraham Attah) nichts von dem mörderischen Treiben mitbekommen. Sein Dorf liegt außerhalb der Kampfzone, und so kann er mit seinen Freunden unbesorgt herumtollen und versuchen, die kläglichen Überreste eines Fernsehgeräts als wandlungsfähiges Fantasie-TV zu verkaufen. Agus Vater (Kobina Amissah-Sam) wiederum kümmert sich liebevoll und geduldig um die Kriegsflüchtlinge, die im Ort ankommen. Als eines Tages die Kampfhandlungen aber doch noch näher rücken, muss Agus Familie fliehen – aber er und sein älterer Bruder (Francis Weddey) bleiben dabei zurück. Kurze Zeit später sind schon die Soldaten der Regierung da, welche die übrig gebliebenen Dorfbewohner für Unterstützer der Rebellen halten. Nur Agu entkommt gerade so der Massenhinrichtung, woraufhin er durch die nahe gelegenen Wälder irrt. Irgendwann rennt er dem ebenso einschüchternden wie überzeugenden Kommandanten (Idris Elba) in die Arme. Dieser macht Agu zu einem Mitglied seiner tödlichen Rebelleneinheit …
«Luther»-Darsteller Idris Elba ist nicht nur der namhafteste Darsteller in «Beasts of No Nation», sondern auch die Persönlichkeit mit der größten Anziehungskraft: Mit undefinierbarem Akzent, ausgeklügelter Rhetorik und überwältigender, gelegentlich gar väterlicher Präsenz ausgestattet, ist es kein Wunder, dass Elbas Commander hilflose, ausgemergelte Kinder wie Agu auf seine Seite zu ziehen versteht. Dass er abscheuliche Dinge mit großer Selbstverständlichkeit tut und frei von Empathie seine Kindeskrieger opfert, macht ihn für jeden, der nicht mit Agus Sicht an ihn herantritt, zugleich zu einem abscheulichen Monster. Da aber nahezu der gesamte Film Agu folgt, wird so ersichtlich, wie aus unschuldigen Kindern Killermaschinen werden können. Es ist ein simpler, doch effektiver Kunstgriff, den diese Adaption des gleichnamigen Romans von Uzodinma Iweala hier mit versierter, gestrenger Schreibe verfolgt. Und es ist ein willkommener Kniff: Er bewahrt «Beasts of No Nation» davor, ein archetypischer „Problemfilm“ zu werden, der unentwegt für den Zuschauer das Denken übernimmt, indem er das geschilderte Geschehen aus einer wissenden Perspektive als verabscheuungswürdig kommentiert.
Regisseur, Autor und Kameramann Fukunaga lässt in dieser 136-minütigen Tour de Force Bilder und Taten, statt Worte sprechen. Und gerade die vom 38-Jährigen gewählten Bilder hinterlassen Eindruck: Fukunaga wählt mehrmals den Weg, eine herbe Diskrepanz zwischen dem zu erzeugen, was er zeigt und wie er es zeigt. «Beasts of No Nation» zeigt grafische Taten, ohne sich an Gewaltexzessen zu ergötzen und so durch Übermäßigkeit dem Grauen seinen Schrecken zu nehmen. Die Bildsprache von «Beasts of No Nation» ist aber poetisch: Sorgsam orchestrieren Fukunaga und das zweiköpfige Cutter-Team Mikkel E. G. Nielsen & Pete Beaudreau einen malerischen Reigen aus atemberaubenden Kranfahrten, den Zuschauer mittendrin ins Getümmel schmeißende Handkameraaufnahmen und technisch makellose Single Takes. Die erdig-betrübliche Farbpalette bricht Fukunaga mehrmals auf, etwa durch eine Attacke auf ein Dorf, das von Gewächsen umgeben ist, die feuerrote Blätter aufweisen, oder durch Halluzinationen, die Agus Weltsicht völlig verzerren.
- © Netflix
Idris Elba im ersten eigenproduzierten Film von Netflix.
All diesen Spielereien zum Trotz ist dies aber kein beschönigendes Werk, ganz im Gegenteil: Dadurch, dass «Beasts of No Nation» Unschönes nicht auch noch abstoßend einfängt, sondern durch sein lyrisches Handwerk den Wegschau-Impuls des Betrachters austrickst, wird dieses Kriegsdrama bewegender, aufwühlender und immersiver. Dass Jungdarsteller Abraham Attah völlig unaffektiert auftritt und in seiner Rolle genau die anvisierte Grauzone zwischen Distanziertheit und Engagement trifft, wird diese Herangehensweise des Regisseurs zudem in der Art der Protagonisten verankert.
Dass sich «Beasts of No Nation» gegen Ende zu sehr von Elbas magnetischer Performance einlullen lässt und so, aus Angst zu wenig von ihm zu zeigen, einzelne Szenen zu lang laufen lässt, ist daher auch nur aufgrund der finalen Szene mit Abraham Attah verziehen. Die esoterisch angehauchte Musik von Dan Romer tut dem Gesamteindruck von «Beasts of No Nation» indes mit ihren schwächeren, da beliebigen Momenten nur einen geringen Abbruch. Denn wenn Romers Musik anschwillt und an Intensität gewinnt, wird sie prompt von einem Schwach- zu einem Pluspunkt.
Fazit: Ob Netflix in den nächsten Jahren tatsächlich Kinos in die Knie zwingen wird, bleibt fraglich – schließlich hat das Kino schon diverse Krisen überwunden. Fest steht aber, dass Netflix mit «Beasts of No Nation» die Kinos und die traditionellen Hollywood-Studios unter Druck setzt. Vielleicht sollte Hollywood kontern, indem es einfach wieder so bewegende, mutige Dramen wie dieses produziert, und sie ganz klassisch zuerst ins Kino bringt, ehe sie irgendwann bei Netflix landen?
«Beasts of No Nation» ist ab sofort bei Netflix zu sehen.