Cast und Crew
- Regie: Douglas Mackinnon
- Drehbuch: Mark Gatiss, Steven Moffat
- Darsteller: Benedict Cumberbatch, Martin Freeman, Rupert Graves, Una Stubbs, Mark Gatiss, Louse Brealey, Andrew Scott, Amanda Abbington, Catherine McCorack, Natasha O'Keeffe
- Produktion: Sue Vertue
- Musik: David Arnold, Michael Price
- Kamera: Suzie Lavelle
- Schnitt: Andrew McClelland
Andererseits können sich «Sherlock»-Fans glücklich schätzen. Denn mit zehn Fernsehfolgen ist die Serie mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman doppelt so umfangreich wie der ebenfalls 2010 gestartete «Tatort» aus Wiesbaden. Und die Briten haben ihren Zuschauern nicht nur mehr Nüsse zum Knacken gegeben, sondern mit dem Special «The Abominable Bride» auch eindeutig die härteste Nuss in diesem Vergleich. Der übrigens längst nicht so weit hergeholt ist, wie es eingangs vielleicht scheint. Denn abgesehen vom Startjahr und dem recht geringen Produktionsausschuss haben die beiden Reihen noch eine Gemeinsamkeit: 2010 feierten sie ihre Premiere als Produktionen, die am Genremaßstab gemessen ungewöhnlich komplex und clever durchdacht sind. Nach und nach zogen aber sowohl «Sherlock» als auch der Murot-«Tatort» das Niveau weiter an und wurden verschachtelter, intensiver und mehrschichtiger.
Und kurzzeitig konnten deutsche Krimifans mit erhobenem Haupt gen UK blicken. Denn im direkten Vergleich mit dem vor Referenzen fast schon platzenden «Tatort: Im Schmerz geboren» und dem feisten Meta-Spiel im «Tatort: Wer bin ich?» wirkte die dritte «Sherlock»-Staffel bei aller Komplexität so, als seien die Serienschöpfer Mark Gatiss und Steven Moffat auf dem Boden der Normalität geblieben. Dieses Urteil muss nach «The Abominable Bride» allerdings dringend revidiert werden, denn die auch für «Doctor Who» verantwortlichen Showrunner setzen in diesem inoffiziellen Wettrennen (von dem die Beteiligten sicherlich nichts wissen) zu einem denkwürdigen Überholmanöver an. Zu einem Überholmanöver, das den illusionsbrechenden Hessen-Krimi schneller im Staub der narrativen Spielereien zurücklässt, als Ulrich Tukur „Bertolt Brecht“ sagen kann.
Der fürs Heute neu entworfene Meisterdetektiv des 19. Jahrhundert wird ins 19. Jahrhundert versetzt
Die Erinnerung daran mag verblassen, aber 2010 schluckten viele Puristen noch beim Gedanken daran, dass die BBC den von Sir Arthur Conan Doyle erdachten Meisterdetektiv Sherlock Holmes für die Gegenwart neu erfindet. Bekanntlich ist Gatiss und Moffat die Adaption des kühlen Denkers für eine im Heute spielenden Erzählung aber überaus gut gelungen. Mit «The Abominable Bride» kehren sie den Prozess wieder um: Das Fernsehspecial versetzt das Publikum in einen alternativen Zeitstrang, in dem Sherlock Holmes (wie bei Doyle) ein begnadeter Privatdetektiv ist, der im Viktorianischen London auf Verbrecherjagd geht. Statt aber das zeitliche Setting des Neunzigminüters zu nutzen, um erstmals ganz und gar buchgetreu vorzugehen, bescheren die Showrunner ihrem Publikum eine Art der rekursiven Adaption: Ja, angesichts der detaillierten, historischen Kostüme, Requisiten und Sets ist dieses «Sherlock»-Special eine strengere Umsetzung der Doyle-Texte als die „normalen“ Ausgaben des Formats. Und auch inhaltlich werden einige Änderungen „korrigiert“. Zum Beispiel: Sherlocks Bruder Mycroft hat einige Pfunde mehr auf den Rippen. Dr. Watsons in einer Zeitung veröffentlichten Niederschriften seiner Abenteuer mit Holmes sind in London bedeutender als der Blog des modernen Watson. Und der Glaube ans Übernatürliche ist in Sherlocks Umfeld deutlich weiter verbreitet als in der Gegenwart der BBC-Serie.
Trotzdem steht im Zentrum dieses vertrackten Fernsehkrimis nicht etwa Doyles Sherlock Holmes. Sondern eine Umwandlung des von Benedict Cumberbatch so eindrucksvoll verkörperten, modernen BBC-Sherlocks, neu interpretiert für ein Viktorianisches Setting. Es ist die Adaption einer Adaption, was bedeutet, dass es möglich ist, die Markenzeichen und Manierismen des „normalen“ Cumberbatch-Sherlocks hinter der hier gebotenen Oberfläche des Viktorianischen Sherlocks zu erkennen. Der kauzig-harsche Detektiv tritt jedoch noch eigensinniger und strenger auf als in den normalen Episoden dieses Formats – ganz der dargestellten Epoche angemessen. Dass der Sherlock der Jetztzeit bei seinen Anvertrauten etwas Nachsicht genießt (welche er ihnen zu erwidern versucht), ist schließlich auch dem heutigen Verständnis sozialer Fehlfunktionen zu verdanken. Im 19. Jahrhundert dagegen interessierte sich kaum jemand für solche Dinge, weshalb es sinnig ist, dass Cumberbatch in diesem Special kaltschnäuziger und arroganter agiert. Erst recht, da sein Sherlock in dem von ungeschriebenen gesellschaftlichen Gesetzen beherrschten London von anno dazumal noch schärfer hervorsticht.
- BBC
Klassische Musik hilft «Sherlock», sich zu konzentrieren.
Die Vergangenheit als großes Kommentarfeld
Zusätzlich zu den Spielereien, die sich «The Abominable Bride» mit seiner Sherlock-Interpretation erlaubt, glüht das Drehbuch von Gatiss und Moffat vor Meta-Kommentaren. Diese fallen mitunter unaufdringlich und nüchtern aus – etwa in Form vieler Dopplungen, die Momente aus vergangenen «Sherlock»-Folgen neu im Viktorianischen Setting auflegen. Zeitweise fallen diese Meta-Spielereien aber auch feucht-fröhlich aus: So beklagt sich die Haushälterin Mrs Hudson (goldiger Humor: Una Stubbs) beim schriftstellerisch tätigen Dr. Watson, dass er sie zu unwichtig erscheinen ließe. Später hält Watson einen Monolog darüber, wie schwer es ihm fällt, auszuwählen, welche Fälle Sherlocks er in Geschichten verarbeiten sollte. Und in einem völlig durchgeknallten Dialog legt ein unerwarteter Besucher einem unterkühlten Sherlock nahe, dass doch eh all seine Fälle nur wieder und wieder neu durchgekaut werden – und daher nicht vor Originalität sprühen.
Mit diesen und vielen ähnlich gearteten Momenten kommentiert das Special sowohl die weit reichende Geschichte an Holmes-Adaptionen generell als auch die vereinzelte Kritik an der BBC-Serie im Speziellen. Eine gewisse Neigung gen Meta-Frotzeleien, Selbstironie und auch gen (mal nett, mal selbstverliebt formulierter) Kritik an Fanreaktionen müssen Betrachter schon mitbringen, um die kecken Dialoge in diesem Special zu genießen – denn Gatiss und Moffat lassen es nicht auf pointierten Seitenhieben beruhen. Stattdessen werden ganze, sich in ihrer Launigkeit steigernde Szenen um diese Referenzen herum konstruiert – vom üblichen Wortwitz und einem sehr ulkigen Abstecher in den Diogenes-Club abgesehen, beruhen nahezu alle humoristischen Szenen darauf, dass sie mal naiv, mal überzogen, mal gehässig, mal selbstkritisch auf die Rezeption der bisherigen Serie eingehen.
Ein Hauch von Gothic
Eine reine Spaß- und Mitknobelveranstaltung ist «The Abominable Bride» allerdings nicht geworden. Denn Regisseur Douglas Mackinnon, der bereits mit Moffats fünfteiliger Serie «Jekyll» in diesem Tonfall Gehversuche machen durfte, versteht es, das Setting zu nutzen, um eine Atmosphäre zu kreieren, die in einer konventionellen Episode der Serie schwer zu rechtfertigen wäre: Der Fall einer totgeglaubten Braut (schaurig: Natasha O'Keeffe), die nun ihr mörderisches Unwesen treibt, mündet in mehrere neblige, schattig ausgeleuchtete Sequenzen, die mit dezent eingesetzten Schockeffekten, präzisem und spannungsschürendem Schnitt sowie gothischem Produktionsdesign durchaus auch Gänsehaut erzeugen.
Diese Suspense-Spur verliert sich allerdings im Verlauf des Specials. Spätestens nach zwei Dritteln dieser vollgestopften Handlung, die ebenso gut auch einen Zwei- oder gar Dreistünder hätte füllen können, verliert der titelgebende, schaurig-makabere Fall an Prägnanz. Stattdessen gewinnen mehr und mehr Beobachtungen über die geänderte Gesellschaftsstruktur zwischen Damals und Heute sowie die Beziehung zwischen Holmes und Watson an Gewicht. Während Ersteres in einem zwar inhaltlich lobenswerten, kontextuell aber fragwürdigen Monlog seinen Höhepunkt erreicht (ein Mann erzählt einem Mann, wie wichtig Frauen sind, um so auf der Meta-Ebene über einen Mann zu referieren), ist das Special im zweiten Punkt zielsicherer: Mit geschliffenen Dialogen zwischen den beiden Weggefährten erlauben es Gatiss und Moffat, hinter die betont kühle Fassade Watsons und Holmes‘ zu blicken. Dank Martin Freemans Performance (der den Viktorianischen Watson beobachtender und auch selbstreflexiver anlegt als das BBC-„Original“) und vorsichtig gewählten Worten werden auch Holmes‘ Emotionalität und die Differenz zwischen seiner wahren Art und seiner Selbstdarstellung auf kurzweilige Art angerissen.
Je stärker der Fall der titelgebenden Horrorbraut in den Hintergrund rückt, desto dominanter werden die Verschachtelungen auf der strukturellen Seite. Und selbst wenn die grundlegende Handlung verständlich bleibt, so entstehen mehr und mehr Ebenen dahingehend, was die Aussagen und Taten der Figuren für uns als Zuschauer zu bedeuten haben und was sie auf die Protagonisten schließen lassen. Stellenweise wiederholt sich im Zuge dessen in «The Abominable Bride» der ärgste Fehler der dritten «Sherlock»-Staffel, und aus dem hochfunktionalen Soziopathen Sherlock wird ein alles umfassender, unfehlbarer Verstand auf zwei Beinen. Wenn Cumberbatch aber wieder ein ihm ebenbürtiger Fiesling gegenübersteht, trügt der so entstehende Wahnsinn über diesen Makel hinweg – solche Szenen fehlten einfach in Runde drei und machen in diesem Special wieder große Lust auf Season vier. Dann dürfte aber gern wieder der zentrale Fall so gerissen sein, wie der Überbau extravagant. Denn nüchtern betrachtet muss schon festgehalten werden: Sherlock hätte das viel einfacher haben können! Aber wieso einfach, wenn es auch einen komplizierten Weg gibt? Murot lässt freundlich grüßen – und löffelt zufrieden sein Biergulasch, während Sherlock nach der richtigen Drogenzusammenstellung sucht.
Fazit: Was wie eine spaßige Sonderfolge beginnt, mutiert zum mehrschichtigen Spiel mit Identität und Textualität: Die BBC-Interpretation und die Doyle-Vorlagen verschmelzen in «The Abominable Bride» zu einem geistreichen, stellenweise tonal unsicheren, doch stets bemerkenswerten TV-Wagnis.