Die Kino-Kritiker

«Anomalisa»

von

«Being John Malkovich»-Autor Charlie Kaufman meldet sich zurück. Und das menschlicher denn je – dabei ist sein skurriles, kleines Meisterwerk sein erster Animationsfilm!

Filmfacts «Anomalisa»

  • Regie: Charlie Kaufman und Duke Johnson
  • Produktion: Rosa Tran, Duke Johnson, Charlie Kaufman, Dino Stamatopoulos
  • Drehbuch: Charlie Kaufman; basierend auf seinem gleichnamigen Theaterstück
  • Originalstimmen: David Thewlis, Jennifer Jason LeighTom Noonan
  • Musik: Carter Burwell
  • Kamera: Joe Passarelli
  • Schnitt: Garret Elkins
  • Laufzeit: 90 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Verschroben. Intellektuell. Einfühlsam. Mit diesen drei Worten lässt sich Drehbuchautor Charlie Kaufman vortrefflich umschreiben. Seine Filme, zu denen «Being John Malkovich» und «Vergiss mein nicht!» zählen, sind surrealistisch angehaucht, bezaubern mit Originalität und erzählen auf bittersüßer Weise von Moral, Identität sowie von der (vergeblichen?) Suche nach Erfüllung. Obwohl die auf seinen Drehbüchern basierenden Filme wiederholt Preise einheimsen und sein Regiedebüt «Synecdoche, New York» von Kritikerpapst Roger Ebert zum besten Film der ersten Dekade im neuen Jahrtausend erkoren wurde, sind neue Kaufmann-Arbeiten leider rar gesät. So plante Kaufmann Anfang des Jahrzehnts ein satirisches Musical namens «Frank or Francis», das sich mit der Subkultur wütender Internetkritiken befasst, allerdings brach dem Oscar-Preisträger die Finanzierung des Projekts unter den Füßen weg.

Dass «Anomalisa» dagegen den Weg in die Lichtspielhäuser erfolgreich beschritten hat, verdankt die Filmwelt dem Comedy-Autor und «Community»-Nebendarsteller Dino Stamatopoulos: Stamatopoulos, mit dem Kaufman Mitte der 90er an der kontroversen Sketchcomedy «The Dana Carvey Show» arbeitete, schlug vor, aus Kaufmans Bühnenskript «Anomalisa» einen Stop-Motion-Film zu machen. Anfangs zögerte der «Adaption»-Autor, weil er empfand, dass das Material nur in Form einer Lesung funktioniere – letztlich fand sich aber sehr wohl ein kinoreifer Ansatz. Die Kosten von acht Millionen Dollar wurden derweil unter anderem über einen Kickstarter-Aufruf finanziert, um eine «Frank or Francis»-artige Schlappe zu vermeiden und sicherzustellen, dass die Integrität des Film gewahrt wird.

Heraus kam ein Juwel von einem Film – eine wunderschöne Anomalie, nicht nur im Animationsbereich, sondern im Filmmedium generell. Dabei handelt «Anomalisa» (welch Ironie!) von einem vollkommen durchschnittlichen Mann, einer sympathischen, doch schüchternen Frau, für die der Begriff „Mauerblümchen“ geprägt wurde, sowie von all den Belanglosigkeiten, die unser banales Leben ausmachen …

Michael Stone, Motivationssprecher und Autor eines erfolgreichen Ratgebers für Kundendienstleister, reist aufgrund einer wichtigen Präsentation nach Cincinnati. Eingelullt von der Austauschbarkeit seines Reiseziels und den inhaltslosen Gesprächen, in die er verwickelt wird, kommt Michael nicht umher, seine Gedanken um eine frühere Beziehung drehen zu lassen. Der unglücklich verheiratete Vater war einst mit einer Frau aus Cincinnati zusammen, und musst ständig darüber nachdenken, wie es ihr wohl geht. Ablenkung findet Michael im vorzeigbaren, aber austauschbaren Fregoli Hotel keine – bis er im Meer aus nervigen, ewig gleichen Stimmen die zarten Klänge einer jungen Frau vernimmt …

Im Gegensatz zu «Coraline» und vielen anderen Stop-Motion-Filmen der vergangenen Jahre, ist «Anomalisa» nicht in einer stark stilisierten Ästhetik gehalten. Während «Die Boxtrolls» oder «Nightmare before Christmas» mit ihren überzeichneten Gestaltung eine andere Welt kreieren, erschaffen die Regisseure Kaufman und Duke Johnson mit ihrer Crew eine verkleinerte, eintönigere Kopie unserer Wirklichkeit. Die mittels 3D-Drucker erstellten Puppen, die sich durch das spröde eingerichtete Fregoli bewegen, stellen keine karikaturenhaften Cartoon-Figuren dar, sondern erstaunlich echt wirkende Miniatur-Menschen.

Gleichwohl vertuschen Kaufman und Johnson nicht, dass es sich bei ihrem berührenden, detailreichen Werk um einen Stop-Motion-Trickfilm handelt: Nahaufnahmen der Gesichter und Hände von Michael und seiner Gelegenheitsbekanntschaft Lisa offenbaren, dass die „Haut“ dieser Figuren eine etwas andere Textur hat als echte, menschliche Haut. Zudem sind immer wieder sind die Gelenke der Puppen und weitere Merkmale ihrer Künstlichkeit zu erkennen – im Zusammenspiel mit der nüchternen, lebensnahen Ästhetik von «Anomalisa» erlaubt dies ein komplexes Gefühl: Michaels bittersüßer Arbeitstrip ist familiär und befremdlich zugleich. Und dies längst nicht nur auf visueller Ebene, sondern auch inhaltlich:

Dass für Michael die Welt um ihn herum fast schon beängstigend arm an Vielfalt ist, überhöht das Gefühl von Einsamkeit um ein Vielfaches – mit nachdenklich stimmenden Folgen. Kaufmans Skript gibt zudem Smalltalk und lästige Hotel- und Bar-Eigenheiten pointiert wieder, wodurch «Anomalisa» eine dezent humorige Note erhält – und so den Betrachter in Sicherheit wähnt, das Gesehene kommentiere unseren Alltag mit trockenem Witz. Jedoch sind es die genauen Beobachtungen bezüglich erster Annäherungsversuche, die dieser Geschichte ihre Seele verleihen – und für Glücksgefühle sorgen, auf die wiederum niederschmetternde Momente folgen. «Anomalisa» wird somit zu einer poetischen Abbildung unseres Seins: Kaufman und Johnson fangen kleine, unbedachte Gesten und alltägliche Macken ein und geben sie an die Trickfiguren weiter, um Michaels und Lisas Interaktion menschlicher, echter und zierlicher zu formen, als es selbst die feingeistigsten, ruhigsten Realfilmdramen vermögen.

Zusätzlich zur filigranen Animation sind es die unaufdringlichen, gerade daher so ausdrucksstarken Sprecherleistungen, die «Anomalisa» zu einem absoluten Ausnahmewerk emporheben. Darüber hinaus brilliert die melancholische Geschichte dadurch, dass sie aller verschrobenen dramaturgischen und komödiantischen Verzierungen zum Trotz auf zweierlei Weisen aufgeht: Es ist ohne Weiteres möglich, «Anomalisa» als bittersüße, skurrile kleine Geschichte zu sehen, die unterstreicht, wie schwer es ist, die innersten menschlichen Bedürfnisse in unserer großen, öden Welt zufriedenzustellen. Wer aber an der Oberfläche der Story rund um Michael, Lisa und eine schier endlose Parade anstrengender, auswechselbarer Zeitgenossen kratzen möchte, stößt auf eine vielschichtige Analogie über Liebe, Reue und das Gefühl, verloren zu sein. Kaufman ist daher erneut ganz große Kunst gelungen: «Anomalisa» hat unter all seinen bisherigen Filmen die größten Identifikationsmöglichkeiten – und ist dennoch kunstvoll, profund und vielseitig interpretierbar.

Fazit: Der menschliche Makel und der Liebreiz der Menschlichkeit: «Anomalisa» ist ein vielschichtiges, mit trockenem Humor versehenes, berührendes Wunderwerk der Animationskunst!

«Anomalisa» ist ab dem 21. Januar 2016 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

Kurz-URL: qmde.de/83283
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