First Look

HBOs «Vinyl»: Nicht der Soundtrack deiner Generation

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«Vinyl» ist Martin Scorseses bester Film seit langer Zeit, will aber eigentlich eine Serie sein. Über ein Musikdrama zwischen Coolness und Cashflow, und über eine der größten Serienszenen der letzten Jahre.

Cast & Crew

  • Erfinder: Mick Jagger, Martin Scorsese, Rich Cohen, Terence Winter
  • Darsteller: Bobby Cannavale, Paul Ben-Victor, P. J. Byrne, Max Casella, Ray Romano, Olivia Wilde u.a.
  • Regie (Pilot): Martin Scorsese
  • Ausf. Produzenten: Scorsese, Jagger, Winter, Emma Tillinger Koskoff, George Mastras u.a.
  • Produktion: Paramout TV, Jagged Prod. u.a. für HBO
  • Episoden: 10 in Season 1
Man erwischt sich mehrmals dabei, in diesen knappen zwei Stunden, das Smartphone zur Hand zu nehmen: Ist das wirklich so passiert, was da gerade in «Vinyl» abgeht? Wer singt, ist das ein echter Song aus den 70ern oder speziell für diese Serie geschrieben? «Vinyl» macht Lust auf mehr, aber man tut gut daran, das Smartphone wegzuschließen, nicht Google oder Shazam zu fragen. «Vinyl» ist eine besondere Seherfahrung, in audiovisueller Hinsicht und in Bezug auf das Selbstverständnis, mit dem Geschichte erlebt wird.

Um es vorwegzunehmen: Vieles ist Fiktion bei «Vinyl», aber einiges tatsächlich so passiert. Der Spannung tut das keinen Abbruch, im Gegenteil. Das Format spielt in den glamourösen 1970er Jahren, in denen alte Werte sterben und Revolutionen nachhallen, und wo die Musik ebenfalls neue Wege beschreitet. Wir lernen Richie Finestra kennen, einen italienischen Immigranten, mittlerweile in New York zuhause, Self-Made-Man. Er fing mit nichts an, wurde Manager unbekannter Musiker, arbeitete sich hoch. Bald gründet er sein eigenes Label zu einem hohen Preis: Der schwarze Künstler, dem Finestra musikalische Freiheit beim neuen Label versprochen hat, darf nicht aus seinem alten Vertrag raus. Es ist der Bruch einer symbiotischen Beziehung, einer Freundschaft, die beide nie vergessen, wie sich später herausstellt.

All das sind Rückblenden in «Vinyl», sie erzählen die ereignisreiche Geschichte von Finestra, der heute um die 45 Jahre alt ist. Und der vor allem von der Erinnerung lebt: an seinen ehemaligen Schützling, dessen Musik so berührte. An die wilden Rock`n`Roll-Zeiten, in denen noch mehr galt als Zahlen und Verkäufe.

Heute ist Finestra Businessman, und kurz davor, sein erfolgloses Label "den Deutschen" (an die Firma PolyGram) zu verkaufen. Ein Deal, der sich rechnen würde. Aber mit dem Ende der Firma, die lange keinen Hit-Künstler mehr hervorgebracht hat, würde Finestra auch seine Leidenschaft, sein eigenes „Baby“ aufgeben. Er muss sich entscheiden. Von Sex, Drugs und Rock`nRoll sind bei Finestra nur noch die Drugs übrig: Kokain überall und jederzeit. Mit dem Stoff holt er sich die Erinnerung zurück.

Extrem beeindruckend ist der Rahmen, den die Pilotfolge an Anfang und Ende der restlichen Handlung setzt: Finestra befindet sich mal wieder auf einem Trip, landet in den Straßen von SoHo, aus der Ferne dringen himmlische Gitarrenriffs an seine Ohren, die Jugend stürmt in den Club. Finestra folgt der Musik und findet schließlich das, was er vermisste: musikalische Erlösung. Es ist eine ikonische Szene von «Vinyl», die alles vereint, was die Serie ausmacht – Gefahr, geile Musik, das Verruchte, das Authentische, das Wilde. Finestra sucht all das, und als Geschäftsmann verliert er immer mehr davon. Dieser Gegensatz zwischen den wilden und braven 70ern gelingt der Serie hervorragend, im Übrigen ist sie ein period drama, das es mit den ganz großen Genrevertretern aufnehmen kann: Selten hat es eine Produktion so gut geschafft, den Stil und das Gefühl jener Zeit auferstehen zu lassen.

Allein deshalb ist «Vinyl» ein Serien-Pflichtprogramm – zumindest der Pilot, der auch als Film für sich stehen könnte. Die Regiearbeit von Martin Scorsese (man achte allein auf die Bildsprache in der erwähnten Erlösungsszene im Club in SoHo) ist filmisch angelegt und sie ist hervorragend. Mancher US-Kritiker schreibt, es sei sein bestes Werk seit «Departed». Das name dropping bei «Vinyl» geht aber weiter: Neben Scorsese produzieren Mick Jagger, Rich Cohen, auch Terence Winter, Autor der «Sopranos» und Creator von «Boardwalk Empire». Das erzählerische Tempo ähnelt sehr dem Prohibitionsdrama. Bobby Canavale, der schon in «Boardwalk Empire» mitspielte, ist Richie Finestra, und er verkörpert den sinnsuchenden Plattenboss unglaublich stark. Auch hier steht die große SoHo-Clubszene stellvertretend für den schauspielerischen Hochgenuss, den er vermittelt. Seine unterforderte (Haus-)Frau wird gespielt von Olivia Wilde, in weiteren Rollen sind unter anderem Ray Romano und Micks Sohn James Jagger zu sehen.

«Vinyl» ist so HBO-typisch, wie es nur sein könnte. Testosterongeladen, langsam und einvernehmend erzählt, mit gewaltiger, bisweilen pathetischer Bildsprache und mit einem klaren Fokus auf eine Hauptfigur, von der sich die Handlungsfäden entwickeln. Wer mit dieser Art des Erzählens bislang wenig anfangen konnte – beispielsweise in «Boardwalk Empire» – wird wohl auch mit dem Musikdrama nicht glücklich. Der Rest hofft, dass die Geschichte um Finestra auch nach dem Pilotfilm noch genügend interessanten Stoff bietet, den es zu erzählen wert ist. Und lauscht ansonsten den musikalischen Höhepunkten. Und zückt danach das Smartphone.

Im Originalton zu sehen gibt es die Serie derzeit bei Sky On Demand und Sky Go

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