360 Grad

Sommer, Sonne, Intrigen - und eine Enttäuschung

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Ein wichtiger Serienneustart, groß angekündigt, heiß erwartet – und von den Kritikern brutal verrissen. Dabei ist deren Urteil in diesem Fall vielleicht wichtiger als die Zuschauerzahlen.

Eine Serie so grauenhaft, dass sich „Le Figaro“ dazu hinreißen ließ, seine Rezension als „eine Autopsie des Scheiterns“ zu betiteln. Man hatte von einem französischen «House of Cards» zu träumen gewagt, und stattdessen ein altbackenes «Dallas» bekommen.

Nicht minder entsetzt war „Le Monde“: Die Serie sei ein televisionärer Kuhfladen, sie zu gucken, eine einzige Qual. Dem sprachkundigen Leser sei die Lektüre des Artikels nachdrücklich empfohlen. Denn Verrisse, die von der ernsthaften Frage der Verfasser durchzogen sind, wie es so weit kommen konnte, sind selten zu lesen.

Die Begeisterung der ausländischen Presse war wenig größer: Für eine französische Produktion sehe die Serie sehr amerikanisch aus – im gänzlich negativen Sinne, hieß es beim „Hollywood Reporter“. Die hiesige „Zeit“ sprach derweil vom Abgesang an einen Sehnsuchtsort und fand in der Amalgamierung aus plumper Erotik und Gérard Depardieus Allmachtsfantasien nur Stereotype, aber kein Fünkchen Realismus.

Die Rede ist freilich – falls Sie es nicht schon selbst durch einen Klick auf einen der verlinkten Texte herausgefunden haben – von «Marseille», der ersten europäischen Netflix-Serie, die vor zwei Wochen mit großem Getöse, riesigen Erwartungen und Sackladungen an Vorschusslorbeeren gestartet ist. Endlich: Ein europäischer Polit-Thriller! Mit Gérard Depardieu! In Südfrankreich! Sommer, Sonne und Intrigen! Von Netflix! Netflix! Dem Hoffnungsschimmer für ansprechendes wie anspruchsvolles serielles Erzählen für all jene, die in «In aller Freundschaft» nicht den Gipfel der dramaturgischen Möglichkeiten erkennen wollen.

Doch statt einem französischen «House of Cards» wurde daraus, wie es der eingangs erwähnte „Figaro“ bereits schrieb, ein altbackenes «Dallas». Statt einem mutigen, innovativen Schritt nach vorn, ein Schritt zurück in die seelenlos runtergekurbelten französischen Drama-Serien der 90er Jahre, an die man sich zwischen Lille und Toulon nur noch mit Schaudern erinnert. Einzige Ausnahme: die frühen Jahre von «Avocats et Associés», an dieser Stelle nachdrücklich empfohlen, aber nur für diejenigen Leser, die noch geradeaus gucken können, nachdem sie sich jedes Mal ein Gläschen Pastis gekippt haben, wenn sich Gérard Depardieu in «Marseille» eine Linie Koks durch die Knollnase gezogen hat.

Dabei wollte ich mich all dem Hass und der Enttäuschung auf die erste europäische Netflix-Produktion gar nicht anschließen. Schließlich hat «Marseille» durchaus eine gewisse Suchtwirkung auf mich entfaltet, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als bei den meisten anderen Produktionen des Hauses.

Halten wir trotzdem fest: Zum ersten Mal ist eine Netflix-Serie nahezu einstimmig bei den Kritikern durchgefallen. Und dann auch noch ein so wichtiges Format, das erste eigenproduzierte aus Frankreich und Europa, das diesen wichtigen Markt im Sturm hätte erobern können.

Das führt uns auch zu einer übergeordneten Frage: Ist Netflix als SVOD-Anbieter nun mehr oder weniger angewiesen auf gute Kritikerurteile als die linearen Fernsehsender? Letztere konnten, um mit ihren Erfolgen zu protzen, auch bei den brutalsten Verrissen stets auf ihre in der Öffentlichkeit einsehbaren Einschaltquoten verweisen. Da Netflix (aus zahlreichen Gründen) keine Abrufzahlen seiner Formate veröffentlicht, bleibt dem Unternehmen diese Möglichkeit verwehrt – und das öffentliche Urteil, welche Serie ankam und welche durchfiel, fällen die Kritiker und Publizisten. Ein öffentlich wahrgenommener Erfolg ist nicht, wenn die Masse zuschaut, sondern wenn die, die darüber schreiben, applaudieren.

Im Fall von «Marseille» fiel das Urteil der Kritiker verheerend aus. Ein Ausrutscher, oder ein erstes Anzeichen dafür, dass sich Netflix im europäischen Markt bei lokalen Eigenproduktionen inhaltlich schwer tun könnte? C’est pas grave! oder Grande Catastrophe!?

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