Die Deutschen, das ist bekannt, leben dank niedriger Geburtenraten und flottem demographischen Wandel seit langer Zeit in einer permanenten Aussterbeparanoia und blicken als eine von nur wenigen Gesellschaften der Welt furchtsam statt hoffnungsvoll in die Zukunft. Diese nicht selten pathologische Züge annehmende Angststörung hat sich, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form, auf den ganzen Kontinent übertragen. Obwohl es für die düstere Vision eines schwachen, dezimierten, zur Irrelevanz verkommenen Europas kaum objektiv haltbare Anzeichen gibt.
Trotzdem: Die Deutschen und die Europäer, sie haben Angst. Und wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, wovor sie in Panik verfallen können, bekommen sie Angst, ihre kulturelle Identität könne abhandenkommen. Was auch immer das heißen soll.
Wenn man jemanden, der, ob beim Demonstrieren, im Bierzelt oder im Proseminar, um seine europäische oder deutsche kulturelle Identität fürchtet, fragt, was diese zur Bedeutungslosigkeit degenerierte Phrase denn nun heißen soll, vulgo: welche konkreten identitätsstiftenden Merkmale uns denn nun bestimmen – und vielmehr: warum sie in Gefahr sein sollen, – dann kommt meistens nicht viel.
Im besten Falle wird noch auf die großen Namen abgestellt: Goethe, Schiller, Kant. Oder, wenn man es internationaler und europäischer möchte, noch ergänzt um: Zola, Hugo, Camus, Dickens, Strindberg, Cervantes, Boccaccio, Aristoteles. Freiwillig in seiner Freizeit (!) gelesen hat jene Autoren und Denker freilich so gut wie niemand – und ob sie damit pangesellschaftlich als identitätsstiftende Figuren gelten können, das darf man bezweifeln.
Aber gut, Kultur geht auch einfacher. Die Deutschen haben ihre Currywurst, die Franzosen ihre Quiche, die Italiener Spaghetti Bolognese, die Spanier ihre Paella, die Briten ihren Mince Pie. Currywurst, das ist Lokalkolorit, denken sich deutsche «Tatort»-Autoren und schicken Ballauf und Schenk so oft es geht ins Büdchen; wer sich damit nicht identifizieren kann, der ist kein echter Nordrhein-Westfale. In Gefahr ist das alles nicht, auch wenn es militante Veganer auf die Palme bringt.
Und jetzt zum großen Rad: die Popkultur, die ist doch nun vollkommen durchamerikanisiert, zumindest die Filme und Serien. Holland in Not, Frankreich am Abgrund, die deutsche Kultur in Gefahr, wenn alle nur noch «Orange is the New Black» und niemand mehr «Hinter Gittern» guckt.
Wir kennen diese Argumentation, noch deutlich übertriebener, aus der Popmusik, wo seit Jahren aus verschiedenen Ecken die Forderung an die Politik zu vernehmen ist, eine „Deutsch-Quote“ fürs Radio einzuführen. Diese Forderung kennt man bereits aus Frankreich und Kanada, wo der Unsinn seit vielen Jahren gelebte Realität ist – und den Markt zur Freude der einheimischen Künstler verzerrt.
Nun liebäugelt die Europäische Kommission offensichtlich mit einer Europa-Quote für SVOD-Dienste. Den Katalogen der Anbieter soll, so die Idee, ein 20 Prozent betragender Mindestanteil europäischer Produktionen aufgezwungen werden.
Der Schutzzweck dieser Norm dürfte in erster Linie natürlich in wirtschaftlichen Interessen liegen: Europäische Produktionsfirmen wollen mit Aufträgen versorgt werden – und die Kommission möchte da mit einer Untergrenze für den Fall der Fälle behilflich sein. Doch an zweiter Stelle auf der Argumentationsliste der Befürworter dieses Plans (sollte er tatsächlich weiterverfolgt werden), wird das wenig greifbare Geschwurbel von der europäischen Identität und Kultur auftauchen, die man mit dieser Maßnahme angeblich schützen will, in Form einer Mindestanzahl europäischer Filme und Serien.
Das ist jedoch nicht nur eine unbotmäßige Bevormundung der SVOD-Plattformen, welche Inhalte sie zeigen, und der Konsumenten, welche sie sich ansehen sollen. Es ist vor allem auch unter der Würde europäischer audiovisueller Medien, und damit der europäischen Kultur.
Die tragikomischen Meisterwerke von Pedro Almodóvar, die feinen Ironisierungen von Federico Fellini, die Oden an den Wahnsinn von Werner Herzog und Klaus Kinski, die einnehmenden psychologischen Dramen von Ingmar Bergman, sie alle gehören zu den wichtigsten Beiträgen zur Geschichte des Mediums überhaupt. Ganz ohne Quote. Europa ist neben den Vereinigten Staaten ein Zentrum internationaler Erfolgsfilme – und kein Entwicklungsland, das mit Quoten hantieren müsste.
Wer die Einschaltquoten des «Tatorts» in Deutschland, der Sitcom «Fais Pas Ci, Fais Pas Ca» in Frankreich und von «Sherlock» und «Doctor Who» im Vereinigten Königreich kennt, wird auch die lokalen Serienproduktionen in Europa nicht in Gefahr sehen.
Dem insbesondere deutschen Minderwertigkeitskomplex liegt ein grundsätzliches Unverständnis der Marktlage zugrunde. Man redet hierzulande gerne von der Amerikanisierung als Gefahr und denkt ernsthaft, dass McDonald’s und Coca-Cola imstande seien, die deutsche (oder europäische) Identität auszuhöhlen. Von der wesentlich stärker ausgeprägten Germanisierung Amerikas weiß hierzulande kaum einer. Wahrscheinlich, weil sich Amerikaner durch in ihrem Land operierende deutsche Unternehmen nicht in ihrer kulturellen Identität bedroht sehen und entsprechend wenig darüber jammern. Um es mit Eric T. Hansen zu sagen: Deutschland ist der härteste Markt der Welt. Amerikaner kaufen dagegen jeden Scheiß, der aus Europa kommt.
Mittlerweile gucken sie sogar begeistert «Sherlock».
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