
Schon die äußeren Umstände verraten, dass man unter dem Begriff „Talk-Show“ jenseits der Rheingrenze etwas anderes versteht als hierzulande: Sendebeginn ist meist zwischen 23.00 Uhr und 23.30 Uhr, produziert wird mit Open End, aber nur äußerst selten ist vor zwei Uhr morgens Schluss. Obwohl Laufzeiten von gut über drei Stunden keine Seltenheit sind, bedarf es keiner Showeinlagen oder anderweitiger Unterbrechungen. Niemand singt, niemand tanzt, niemand veranstaltet irgendeinen Blütenzauber. Allein: Drei Stunden lang wild debattierende Franzosen.
Man kann sich die Sendung ein bisschen so vorstellen, wie «Markus Lanz» mit einem ernsteren Interesse an den Sachthemen aussähe, mit einem weitaus größeren Willen zur Kontroverse, mehr Haltung und wesentlich mehr Streitlust. Neben dem exzentrischen, sympathischen, und dabei haltungsvollen Moderator Laurent Ruquier gehören zwei Chroniqueurs (derzeit Léa Salamé und Yann Moix) zum festen Ensemble der Show, die den Gästen nicht nur Fragen stellen, sondern gerne – die Eine von links, der Andere von rechts – bis aufs Blut polemisieren und provozieren.
Provokation gehört in einer französischen Talk-Show so dazu wie in einer deutschen der Stuhlkreis oder ein Betroffenensofa. Doch diese Provokation entlädt sich nicht nur im tagesaktuell-relevanten Teil der Show, wenn ein Politiker ausführlich (gerne eine ganze Stunde) von Ruquier – und natürlich besonders von Salamé und Moix – wie auch von der wöchentlich wechselnden Besetzung des erweiterten Panels in die Mangel genommen wird. Auch die Gäste aus der (pop-)kulturellen oder literarischen Öffentlichkeit, die im ersten Teil der Sendung noch mit der Stammbesetzung das Panel bilden, müssen sich reihum teilweise brutalen Verrissen stellen. Salamé und Moix werden ihrer Reputation als knallharte (aber größtenteils faire) Kritiker wöchentlich gerecht.
Obwohl die meisten wissen dürften, was sie erwartet, spielen nicht alle Gäste das Spielchen bis zum Schluss mit. Dass ein Literat, Komödiant, Reporter oder Musiker gekränkt, beleidigt oder stinkwütend das Podium verlässt oder sich mit Yann Moix – wie auch mit seinen Vorgängern Aymeric Caron, Éric Naulleau oder Éric Zemmour – immer rabiatere Wortgefechte liefert, ist zwar kein wöchentliches Ritual, kommt aber nicht gerade selten vor.
Hitzige Debatten, wenn auch nicht unbedingt ständig so extrem wie bei «On n’est pas couché», sind Franzosen nicht fremd. Im Gegenteil: Sie werden gerne als ein Ausfluss des philosophisch-intellektuellen Selbstverständnisses gesehen, als ein Element leidenschaftlichen Staatsbürgertums mit einer genauso großen Affinität für alles Kulturelle wie einer ebenso dezidierten Meinung. Und wenn die Meinungen aufeinanderprallen, umso besser. Der Wettbewerb der Ideen hat in dieser Sendung ein Forum gefunden.
Ein Forum, das natürlich nicht allen gefällt. „Echte Intellektuelle“ hassen die Show, wegen ihrer Vereinfachungen, ihrer Zuspitzungen, ihrer Polemisierungen. «On n’est pas couché» – das sei viel Schall und Rauch, aber letzten Endes wenig Substanz. Viele Meinungen, wenige Fakten. Viele Streitereien, leider aber über zu viele Nichtigkeiten. Das «Literarische Quartett» hatte seinerzeit in Deutschland mit ganz ähnlichen Vorwürfen zu kämpfen – und, ebenso wie «On n’est pas couché», deutlich mehr leidenschaftliche (intellektuelle) Verfechter als mäkelnde Kritiker.

«On n’est pas couché» ist eine Talk-Show, wie es sie im deutschen Fernsehen nicht gibt – und die ihm fehlt. Eine Sendung mit Haltung, aber Humor; leichtfüßig, aber intellektuell; anspruchsvoll und einnehmend. Kein Wunder, dass man da nicht einschlafen kann. Sondern auch weit nach zwei Uhr morgens noch dranbleibt.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel