Filmfacts «Nerve»
- Regie: Henry Joost, Ariel Schulman
- Produktion: Allison Shearmur
- Drehbuch: Jessica Sharzer, basierend auf dem Roman von Jeanne Ryan
- Darsteller: Emma Roberts, Dave Franco, Juliette Lewis, Emily Meade, Miles Heizer, Kimiko Glenn, Colson "Machine Gun Kelly" Baker
- Musik: Rob Simonsen
- Kamera: Michael Simmonds
- Schnitt: Madeleine Gavin, Jeff McEvoy
- Laufzeit: 96 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Im stylischen Jugendthriller «Nerve» gibt es eine weitere Form des digitalen Popularitätswettbewerbs: Das titelgebende, juristisch fragwürdige Onlinegame Nerve, das gerade New York im Sturm erobert. An Vees (Emma Roberts) High School gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema. Unter anderem kommt ihre beste Freundin Sydney (Emily Meade) dort super an. Kein Wunder, ist es doch perfekt auf solche sich ständig in den Mittelpunkt drängende Personen wie Sydney zugeschnitten: User können sich dort als Watcher oder Player anmelden. Watcher können über Social-Media-Anwendungen verfolgen, wie die Player diverse von den Watchern gestellte Aufgaben erfüllen. Player wiederum bekommen für das Erfüllen ihrer Aufgaben nicht nur Onlineruhm und -ehre, sondern auch Preisgelder. Heiklere Aufgaben bedeuten mehr Watcher und mehr Geld.
Als sich Sydney und ihre ruhigere Freundin darüber streiten, ob Vee zu zurückhaltend oder Sydney eine zu oberflächliche Rampensau ist, meldet sich Vee kurzentschlossen als Player an, um es ihrer Weggefährtin mal so richtig zu zeigen. Mit ihrem Kumpel Tommy (Miles Heizer) als höchsteigenen Kameramann im Schlepptau macht sich Vee auf, bei Nerve ordentlich zu punkten. Bei ihrer ersten Mutprobe lernt Vee den gutaussehenden Ian (Dave Franco) kennen, der ebenfalls an Nerve teilnimmt. Die Beiden bilden ein Team, das den Watchern gefällt – doch Vees steigende Popularität bei den Nerve-Watchern stellt ein zweischneidiges Schwert dar …
«American Horror Story»-Autorin Jessica Sharzer, die sich hier an einem Jugendroman entlanghangelt, sichert sich doppelt ab: Sie verleiht Vee sogleich zwei Gründe, bei Nerve aktiv zu sein. Die sensible und talentierte Fotografin braucht dringend Geld, um sich ihre Collegeträume zu erfüllen – und hat die Nase gestrichen voll davon, als feiges Huhn zu gelten. Obwohl es per se keineswegs kritisch zu hinterfragen ist, wenn die Motivation einer Filmheldin auf mehreren Argumenten ruht, tut sich Sharzer bei «Nerve» keinen Gefallen damit: Würde Vee allein von der Sehnsucht nach digitaler Anerkennung und der Freude am Nervenkitzel angetrieben werden, wäre dieser Thriller ein spitzer, hochkonzentrierter Kommentar auf die eitle Social-Media-Geltungssucht. Dadurch, dass Vee mit den Mutproben auch Geld verdient, wird dieser Aspekt von «Nerve» etwas verwässert – obendrein wirft dieses Storydetail die Frage auf, wo das Geld herkommt, das die Player gewinnen können. Es gäbe zahlreiche potentielle Erklärungen, doch «Nerve» gibt keine einzige.
Trotz der somit etwas störenden Preisgeld-Komponente atmet «Nerve» inhaltlich sowie stilistisch den Zeitgeist der späteren Generation Y und der Generation Z. Zwar vermitteln die Dialoge den emotionalen Subtext der charaktergetragenen Szenen recht explizit, allerdings gelingt dem Dialogbuch problemlos die Darstellung dessen, wie sich junge Digital Natives heute unterhalten. Während ähnlich gelagerte Filme wie «#Zeitgeist» fatal scheitern und zwischen einem anbiedernd-konstruierten Übermaß an Jugendsprache und einem verstaubten Vokabular schwanken, wirkt die Sprache in «Nerve» aktuell und natürlich. Die Regisseure Henry Joost & Ariel Schulman («Catfish») wiederum hüllen den jüngsten Eintrag ins Mutprobenfilm-Subgenre in eine hippe, moderne Bildästhetik ohne dabei übers Ziel hinauszuschießen und manisch den Look viraler Hits zu imitieren.
Während Komponist Michael Simmonds einen pulsierenden Electroscore beisteuert, der sich nahtlos in die facettenreiche Auswahl an Songs aus diversen Electro-Subgenres fügt, verwandelt Kameramann Michael Simmonds («Lunchbox») New York City zur Welthauptstadt der Neonfarben: «Nerve» erstrahlt in einem kontrastreichen, fiebrigen Farbenrausch, wie er aus einem Retro-Musikvideo oder einer Nachtszene eines Nicolas-Winding-Refn-Film entflohen sein könnte. Kombiniert mit einem temporeichen Schnitt und einer für moderne Thrillerverhältnisse recht ruhigen, übersichtlichen Kameraführung hat «Nerve» nicht nur Style, sondern vermag es auch, aus den sich steigernden Mutproben fesselnde Setpieces zu formen. Egal, ob hohe Abgründe überwunden werden müssen oder die Watcher halsbrecherische Motorradstunts fordern: «Nerve» macht durch die optisch ansprechende Inszenierung sehr viel aus seinen kleinen Actioneinlagen.
Trotzdem ist «Nerve» keine bloße Aneinanderreihung kleiner Thrills: Auch wenn Emma Roberts und Dave Franco in ihren Rollen wenig gefordert werden und streng genommen einen Hauch zu alt für sie sind, formen sie aus ihren Figuren ein sympathisches, charismatisches Doppel. Sie wirken zwar keineswegs wie ein Traumpaar, wohl aber wie ein kecker Flirt – was genau richtig für dieses Material ist, das dank pointierter Verbalschlagabtausche und gelegentlicher ironischer Seitenhiebe in einer launigen Stimmung verankert wird. Daher kommt «Nerve» auch nie belehrend rüber – es ist einfach eine coole Geschichte über aufstrebende Webstars, die von Usern dazu gedrängelt werden, über die Stränge zu schlagen.
«Nerve» ist ab sofort in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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09.09.2016 14:39 Uhr 1