Die Kritiker

Gehauchter Geschlechtsverkehr und mangelndes Vertrauen

von

Die Kritiker: Die Kripo aus «Stralsund» meldet sich im ZDF zurück. Wem man dabei noch Vertrauen darf, ist nur eine Frage, die zunächst offen bleibt.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Katharina Wackernagel («Das Adlon») als Nina Petersen, Alexander Held («Die Päpstin») als Karl Hidde, Michael Rotschopf («Kriminaldauerdienst») als Gregor Meyer, Wanja Mues («GSG 9») als Max Morolf, Andreas Schröders als Techniker Stein, Lucas Gregorowicz («Lammbock») als Anton Robak, Ivan Shvedoff («Zuckerbro») als Vitali Komerenko, Jan Henrik Stahlberg («Short Cut to Hollywood») als Jan Pawlowski, Rudolf Kowalski («Stolberg») als Victor Schuhmacher, Anja Antonowicz als Tatjana Komerenkowa, Emilia Pieske als Nadja Komerenkowa und andere


Hinter den Kulissen:
Regie: Lars-Gunnar Lotz, Buch: Sven S. Poser, Marianne Wendt und Christian Schiller, Musik: Oliver Kranz, Kamera: Jan Prahl, Schnitt: Anton Korndörfer, Produktion: Network Movie

Nein, ermittelt wird an der Ostsee zunächst nicht. Der etwas verjüngte Max Morolf darf im neuen Fall der Krimireihe «Stralsund» zunächst dabei begutachtet werden, wie er in unfassbarer Ruhe und absolut telegener Hyperbel der Kopulation frönt. Ja, er und seine Partnerin sind in rot-oranges Licht getaucht und hauchen den Sex wenn überhaupt nur. Ob sie dabei etwas spüren – wenigstens sich selbst – scheint fragwürdig. Fast verwunderlich, dass es seine Partnerin danach überhaupt hinbekommt, den Mund aufzumachen. Doch sie schafft es, und was der Zuschauer dann hört, ist ob der ruhig-ekstatischen Situation zuvor überraschend kritisch und hat noch nicht einmal was mit Geschlechtsorganen zu tun: Auf welcher Seite Morolf denn eigentlich stehen würde, will sie wissen. Doch die Antwort darauf bleibt zunächst aus. Vielleicht aber überhört man sie auch nur weil Morolf noch im Hauch-Modus ist. Die Tonalität der neuen Krimi-Episode ist damit jedoch keinesfalls gesetzt, der Fall «Schutzlos» wird ungleich derber und rabiater und springt auch zeitlich flott sieben Jahre nach vorne. Und nein, der Episoden-Titel bezieht sich auch nicht auf den Sexualakt.

Vielmehr geht es um eine weißrussische Familie, die vor politischer Verfolgung geflüchtet ist, aber kein Asyl erhalten hat. Bevor die genauen Hintergründe von Vitali Komerenko und den beiden Damen Tatjana (seiner Frau) und Nadja (seiner Tochter) klar werden, geht es zunächst einmal eskalativ zu. Als es bei der Familie klingelt öffnet vorsichtshalber keines der Familienmitglieder die Tür, sondern ein Polizist, der zum Schutz da ist – und wenige Sekunden später ist der Mann tot. Während Vitali Frau und Tochter durch das Fenster fliehen lässt, schnappt er sich noch die Waffe des Polizisten und verschanzt sich kurze Zeit später in einem Laden am Alten Markt von Stralsund. Was wie eine Geiselnahme aussieht, ist mehr eine wirre Aktion um sich in Sicherheit zu bringen, löst aber zunächst Chaos aus. Wie immer den Überblick hat Kommissarin Nina Petersen, die das Ganze auflöst.

Steckbrief

Frederic Servatius schreibt seit 2013 für Quotenmeter. Dabei ist er zuständig für Rezensionen und Schwerpunktthemen. Wenn er nicht für unser Magazin aktiv ist, arbeitet er im Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder schreibt an seinem Blog. Immer wieder könnt Ihr Frederic auch bei Quotenmeter.FM hören. Bei Twitter ist er als @FredericSrvts zu finden.
Es dauert auch nicht allzu lange, bis die Ermittler im Großen und Ganzen verstehen, was da abgeht: Die Komerenkos sind im Zeugenschutzprogramm gelandet, nachdem Tatjana eine Drogenübergabe beobachtet hat – für Vitali bedeutet das vor allem, dass seine Familie zunächst in Deutschland bleiben darf, er geht sogar davon aus, deutsche Pässe zu bekommen. Auch seine Geiselsituation scheint er nicht als Fehlverhalten anzusehen und möchte die Wache gleich wieder verlassen. Es scheint also, als gebe es ein Leck bei der Polizei. Und zudem sind weder Vitalis Tochter noch seine Frau nach der Flucht aufgetaucht – ohnehin scheinen es vor allem die beiden Damen zu sein, die von der Gesamtsituation eingeschüchtert sind. Zusätzliche Dramatik bekommt der Fall durch das fehlende Insulin-Set, das Nadja mit ihrer Diabetes doch eigentlich benötigen würde. Zumindest letzteres ist ein zu oft genutzter, zu billiger Kniff, der weniger für echte Spannung als mehr für ein Plus an Absurdität sorgt.

Ein wenig wild geht es auch intern zu. Karl Hidde hat trotz Prothese noch immer mit seinem Bein zu kämpfen und fürchtet gar nicht mehr richtig in den Dienst zurückzukehren. Auch hier ist Nina Petersen als Mädchen für Alles mal wieder zur Stelle, während die eigenen Sorgen nicht auf den Bildschirm kommen – wer weiß, wie weit die Explosion hier noch weg ist. Und da ist natürlich noch Morolf, dessen länger vergangene Beziehung nahe liegender Weise einen Link in die Gegenwart herstellt. Irgendwie scheint der Ermittler den Fall zu kennen, in dem Tatjana Komerenkowa aussagen soll. Und auch Chef Meyer zuckt mit absurd-überzogener Theatermimik, als er auf den vermeintlichen Drogenszenen-Drahtzieher Pawel angesprochen wird. Morolf, auf welcher Seite steht er eigentlich? Wenn sie nicht sexuell gehaucht wird, scheint diese Frage ungleich relevanter.

Der Krimi und der Möhring: Sie können es nicht lassen


Doch auch eine weitere Figur bleibt nicht außen vor – wenn auch ohne Screen-Präsenz. 2013 flimmerte der letzte «Stralsund»-Fall mit dem einstigen Hauptdarsteller Wotan Wilke Möhring als Erstausstrahlung über die deutschen Fernsehschirme. Zugegeben, es ist erst die vierte Folge ohne den bekannten Mimen und doch wird man das Gefühl nicht los, dass die Produktion viel mehr an ihrem Ex-Darsteller hängt, als es Nina Petersen an ihrem Ex-Partner tut. Denn um Petersen selbst geht es dabei quasi nicht. Das wäre okay, wenn die Erzählung inhaltlich anderweitig relevant schiene. Tut sie aber nicht. Mehr willkürlich und ziellos streuen alte Kontakte den Figurennamen Benjamin Lietz in den Folgen nach dessen Abschied immer mal wieder ein, ohne dass das wirklich große Relevanz für den Kriminalfall hätte. Auch emotionale Rückfälle von Nina Petersen sind nicht mehr wirklich sichtbar. In diesem Punkt hätte «Stralsund» also zwei Möglichkeiten: Möhring hinter sich lassen oder die Einflechtungen relevanter machen. Letzteres scheint aber eher mühsam denn zielführend zu sein.

Wichtiger aber sind ohnehin die Verflechtungen: Wer ist Pawel? Und warum tut Morolf so als würde er ihn nicht kennen, obwohl er selbst als Drogenfahnder in Frankfurt an der Oder aktiv war, als Pawel sein Netzwerke dort schon lange aufgebaut hatte? Hidde bringt dabei wichtige Hinweise, die Petersen erfolgreich nutzt. Gleichwohl bleibt die Über-Figur aber natürlich Idealistin, will Vitali Komerenko helfen. Dafür ist sie sogar bereit seine Aussagen zu schützen. Um der Familie zu helfen zieht sie Mikro und Kamera aus der Steckdose und redet unter vier Augen, während Morolf halb an der Decke ist.

Personeller Umbruch beim Ambivalenz-Arschloch?


Als Zuschauer könnte man glatt vermuten, es ist ein personeller Umbruch um Meyer und Morolf zugange. Phasenweise wirkt es so, als seien die Autoren bemüht die Charaktere aus der Reihe zu schreiben. Doch ein ums andere Mal folgt ein gekonnter Twist, ohne dabei allzu unrealistisch zu wirken. Die geheime Hauptfigur des Falles (eben Morolf) hat gen Ende hin gleich zwei Schock-Twists parat, die möglicherweise nicht gänzlich unerwartet kommen, aber dennoch Tiefe mitbringen und den Zuschauer zweifeln lassen. Im Endeffekt fragt man sich selbst, wem eigentlich zu trauen ist. Dass Wanja Mues das schnurrbärtige Ambivalenz-Arschloch Morolf wieder einmal erste Sahne abliefert, braucht dabei fast nicht mehr erwähnt zu werden. Auch die wenigstens diesmal bewusst überzeichnete Nina Petersen ist gut gespielt. Lediglich in den Nebenrollen, gerade bei Familie Komerenko, gibt es nicht nur Probleme mit dem mittelmäßig gespielten Akzent sondern auch im sonstigen Spiel.

Diese kleineren Schwächen sind aber verzeihbar. So meldet sich die Kripo aus «Stralsund» solide zurück und hat vor allem die alte psychologische Krimi-Frage nach dem Vertrauen gut aufbereitet. Das ist kein neuer, mindestens aber ein interessanter Ansatz bei dem die Privatfigur Nina Petersen ein wenig zu kurz kommt. Doch nicht nur hier kann schon bald Besserung eintreten, auch ist der Fall Pawel noch nicht final gelöst – doch schon zwei Wochen nach der Ausstrahlung von «Schutzlos» melden sich die Ermittler wieder zurück und können es in «Vergeltung» dann noch ein Stück besser machen.

«Stralsund – Schutzlos» gibt es am Samstag, 15. Oktober um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.

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