Die Kritiker

«Polizeiruf 110: Im Schatten»

von

Mit dem neuen Fall der Rostocker führt die Reihe seine traditionell einnehmende horizontale Erzählweise weiter, wartet aber gleichzeitig mit einem hochaktuellen Fall auf.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Anneke Kim Sarnau, Charly Hübner, Andreas Guenther, Josef Heynert, Uwe Preuss, Klaus Manchen, Elisabeth Baulitz, Hansjürgen Hürrig, Kirsten Block, Bernhard Conrad und viele mehr.


Hinter den Kulissen:
Regie: Philipp Leinemann, Buch: Florian Oeller, Bildgestaltung: Jan Fehse, Schnitt: Simon Blahsi, Szenenbild: Sonja Strömer, Casting: Mai Seck, Musik: Sebastian Fillenberg, Redaktion: Daniela Mussgiller

Die ARD-Anstalten NDR, MDR, BR und RBB bemühen sich stets, den Ermittlern ihrer «Polizeiruf»-Versionen eine eigene Identität zu verleihen. Die Rostocker Kommissare Bukow und König weisen mit 13 Episoden seit 2010 das längste Bestehen auf, gleichzeitig versteht es aber kein «Polizeiruf» wie der aus Rostock seine Ermittler so vielschichtig anzulegen und die Fälle von ihren Hauptcharakteren treiben zu lassen. Kompromisse sind nicht der Fall der raubeinigen Kripo-Ermittler und trotzdem musste dieser zumindest hinter den Kulissen im Rahmen des vergangenen Falles eingegangen werden: Als Zweiteiler sendete Das Erste vor knapp einem Jahr das erste «Polizeiruf 110»-Crossover, in dem die Teams von NDR und MDR kooperierten. Ein ansprechender Fall kam dabei heraus, allerdings vermischten sich die ganz eigenen Herangehensweisen der Ermittlerteams im Rahmen ihrer Zusammenarbeit auch zu einem nicht mehr ganz trennscharfen Ganzen. Nun sind Alexander Bukow und Katrin König wieder für sich. Kaputt, umtrieben, komplex wie eh und je.

Eine verdeckte Ermittlung der Rostocker Kripo in Zusammenarbeit mit der Zollfahndung endet furchtbar: Eine Informantin, ein Drogenkurier und auch der Einsatzleiter der Zollfahndung lassen ihr Leben. Schnell wird klar: Letzterer kam der „Ndragheta“ gefährlich nahe, einer Mafiaorganisation, die unbemerkt ein Milliardengeschäft mit Drogentransporten vom Rostocker Hafen leitet. Die eigenmächtigen Ermittlungsmethoden des getöteten Beamten, die besondere Beziehung zu Zollfahnderin Jana Zander (Elisabeth Baulitz) und das merkwürdige Verhalten ihrer Kollegen, machen die Kripo aber auch auf mögliche Korruptionsvorgänge bei den Zollkollegen aufmerksam. Während sich Pöschel (Andreas Günther) diese zur Brust nimmt, beschäftigen sich König (Anneke Kim Sarnau) und Bukow (Charly Hübner) mit den Machenschaften des Mafia-Clans. Auf diesem Wege gibt es ein unfreiwilliges Wiedersehen mit einem altbekannten Psychopathen, das König sich sicher gerne gespart hätte…

Der richtige Mann für den Job


Erstmals inszenierte Regisseur Philipp Leinemann mit dem neuen Teil des Rostocker «Polizeiruf 110» ein fremdes Drehbuch. Eine Herausforderung, könnte man meinen. Tatsächlich hätte jedoch kein Fall und keine Reihe geeigneter für Leinemanns Fernsehdebüt sein können. Die drückende, trostlose Stimmung und visuelle Sprache der NDR-Reihe, verschwimmende Grenzen zwischen Gut und Böse, dreckige Polizisten, Korruption, Machtmissbrauch, Protagonisten in handfesten Lebenskrisen – alles Themenfelder, die Leinemann schon mit seinem 2014 erschienenen Krimidrama «Wir waren Könige» beackerte. Man merkt dem «Polizeiruf 110: Im Schatten» an, dass sein Regisseur es versteht, die Atmosphäre seines sehenswerten Kinofilms auch in den ARD-Krimi zu übersetzen.

Doch haben wir es bei den Rostockern immer noch mit einem Krimi zu tun? Innerhalb der ARD-Reihe hat die NDR-Produktion ohnehin seit Jahren eine Sonderrolle inne, die zu großen Teilen auch klassische Drama-Elemente enthält, welche vielleicht nie so klar zu Tage traten wie im neuen Fall. In seinem dritten Skript für den «Polizeiruf 110» aus Rostock legt Autor Florian Oeller einen besonderen Fokus auf die Charaktere und verwebt den Fall geschickt mit deren persönlichen Schicksalen. Dass man es weiterhin schafft, den Rostocker Ermittlern nach scheinbar auserzählten Strängen und einer langen Laufzeit immer wieder neue Facetten zu verleihen, ist dabei besonders bemerkenswert.

König kontrolliert, Bukow am Boden


Dabei bewegen sich König und Bukow im 90-Minüter in Bezug auf ihren emotionalen Zustand diesmal etwas weiter voneinander weg. Während Sarnaus taffe Ermittlerin ungewohnt ausgeglichen daherkommt, gefährdet sie den Fall jedoch aufgrund verletzter Eitelkeiten durch eigenmächtige und vorschnelle Konfrontationen. Sie fühlt sich, von ihrem gebrochenen Partner übergangen, zu neuen Aufgaben berufen und schließlich auch durch den Einbezug der Kollegin von der Zollfahndung herausgefordert. Schließlich ermittelt sie seit Jahren heimlich auf eigene Faust gegen Ndragheta, kein Fall reizt sie so sehr. Und trotzdem widmet der Fall ihr auch ruhige Momente, etwa wenn König im Gespräch mit der Bukow etwas zu vertrauten Jana Zander auf die gemeinsame Kindheit bei Pflegeeltern aufmerksam wird.

Am Rande der Verzweiflung befindet sich derzeit ihr Partner. Von der Frau verlassen, kaum noch Zugang zu den Kindern und dann auch noch im Angesicht seines schwerkranken Vaters, kämpft Bukow mit sich und seiner Rolle im Ermittlerteam. „Es kommt nicht darauf an, wie hart die Faust ist, sondern, wie auch immer du auf die Fresse kriegst, wieder aufzustehen“, gibt ‚Vaddern‘ dem Ur-Rostocker mit auf den Weg. Das fällt umso schwerer, wenn Details des Falls sein Privatleben spiegeln und ihn sorgenvoll in Richtung Zukunft des Scherbenhaufens blicken lassen, den er noch Familie nennt.

Während sich die gewohnten Probleme zwischen Bukow und König im Zuge ihrer Zusammenarbeit auftun und ihre unterschiedlichen Vorstellungen einer fundierten Vorgehensweise im Fall wie gewohnt gehörig Reibung erzeugen, schmilzt weiter die professionelle Distanz des Duos. Sie ziehen sich an, sie stoßen sich ab und so rutscht das Verhältnis der beiden immer weiter Richtung Kontrollverlust. Das Siezen die letzte zarte Barrikade, die beide noch voneinander trennt.

Geschäfte der Schatten-Mafia


Keine deutsche Krimi-Reihe kann derzeit auf ein so sehenswertes Ermittler-Gespann bauen. Dass der Fall dadurch hier und da in den Hintergrund des Interesses rückt, etwa wenn man mehr vom dysfunktionalen Privatleben Bukows sehen will, könnte man an dieser Stelle als Negativ-Aspekt vorbringen. Dabei schuf Autor Florian Oeller mit dem «Polizeiruf 110: Im Schatten» einen noch immer höchst relevanten Fall, der auf fast schon sträflich vernachlässigte und tatsächliche kriminelle Vorgänge am Rostocker Hafen hinweist. Roberto Savianos Bestseller über organisierte Wirtschaftskriminalität wie «Gomorrha» fungierten bereits als Inspiration für mehrere Filme und Serien. Auch der Kokainhandel der Ndrangheta, der über die Hansestadt verläuft, ist darin Thema und wurde von Oeller detailliert recherchiert. So thematisiert Oeller im 90-Minüter nicht nur die Mafiaorganisation, die Ermittlern zufolge Jahr für Jahr bis zu 60 Milliarden Euro illegaler Herkunft in die legale deutsche Wirtschaft einschleusen kann, sondern auch den mühsamen Kampf der Behörden gegen das organisierte Verbrechen und die zu schließenden Lücken in der Anti-Mafia-Gesetzgebung. Dennoch agiert die Ndrangheta bis heute für viele unsichtbar - „im Schatten“.

Mit dem neuen Fall des Rostocker «Polizeiruf 110» gelang dem NDR einmal mehr ein atmosphärisch dichtes Krimidrama mit den Elementen, die Fans über Jahre an der Reihe so schätzen gelernt haben. Mit dynamischeren, geschmeidigeren Bildern als sonst erzählt der 90-Minüter nicht nur einen hochaktuellen Fall, sondern auch die weitere und beunruhigende Entwicklung seines Ermittlerduos, das jedoch so manche Nebenhandlung in den Schatten stellt, etwa die des sich langsam emanzipierenden Pöschels, dessen internen Ermittlungen die Spannung etwas abgeht. Hier begeistert vor allem die weiterhin einnehmende horizontale Erzählung von Bukow und König bis zu dem Punkt, an dem man sich fragt: „Brauche ich dazu eigentlich noch einen Fall?“, ehe man bei dem Gedanken erschrickt und die Frage schnell wieder aus dem Kopf wischt.

Das Erste zeigt «Polizeiruf 110: Im Schatten» am Sonntag, 16. Oktober 2016, um 20.15 Uhr.

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