Filmfacts «Girl on the Train»
- Regie: Tate Taylor
- Produktion: Marc Platt
- Drehbuch: Erin Cressida Wilson; basierend auf dem Roman von Paula Hawkins
- Darsteller: Emily Blunt, Rebecca Ferguson, Haley Bennett, Justin Theroux, Luke Evans, Allison Janney, Édgar Ramírez, Lisa Kudrow
- Musik: Danny Elfman
- Kamera: Charlotte Bruus Christensen
- Schnitt: Michael McCusker, Andrew Buckland
- Laufzeit: 112 Minuten
- FSK: ab 16 Jahren
Dass die Pendlerin-gerät-durch-ihre-Beobachtungen-in-eine-ihr-Wesen-aufrüttelnde-Ermittlung-Kriminalgeschichte bereits ein Jahr nach ihrer Erstveröffentlichung auf die Leinwand kommt, ist Verdienst der Materialsucher bei DreamWorks Pictures: Noch bevor «Girl on the Train» überhaupt in die Bücherregale gelangte, befand sich dank ihnen das Manuskript bereits in den Händen des Filmproduzenten Marc Platt. Der «Into the Woods»-Produzent sah großes Potential in Hawkins‘ Material und bereitete die Leinwandadaption vor, ehe auch nur ein einziger Normalsterblicher den Pendelweg mit der Titelfigur bestreiten konnte. Am Tag des Verkaufsstarts fand die Verfilmung in Erin Cressida Wilson («#Zeitgeist») ihre Drehbuchautorin. Als die Marke von elf Millionen verkauften Buchexemplaren passiert wurde, standen die weiblichen Hauptdarstellerinnen fest. Und rund ein halbes Jahr nach Verkaufsstart der deutschen Übersetzung waren die Dreharbeiten schon beendet.

Die wichtigste dieser Figuren ist Titelheldin Rachel, gespielt von einer völlig in ihrer Darbietung verschwindenden Emily Blunt: Die geschiedene Alkoholikerin verlor vor einiger Zeit ihren Job, gaukelt ihrer Freundin und WG-Mitbewohnerin Cathy (Laura Prepon in einer unauffälligen Rolle) jedoch vor, weiterhin berufstätig zu sein, indem sie täglich in die New Yorker Innenstadt pendelt. Auf ihrem vermeintlichen Arbeitsweg kommt Rachel stets an ihrem früheren Wohnviertel vorbei, das unmittelbar hinter der Bahnstrecke liegt. Aufgrund einer Baustelle hält der Zug verlässlich an diesem Streckenabschnitt, so dass Rachel die Nachbarn ihres Ex-Mannes Tom (Justin Theroux) beobachten kann: Ein junges Pärchen, auf das Rachel ihre Sehnsüchte projiziert. Für sie sind Scott (Luke Evans) und Megan Hipwell (Haley Bennett) das perfekte, sinnliche, leidenschaftliche junge Paar. Sie leben das Glück, das Rachel von der Maklerin Anna Boyd (Rebecca Ferguson) genommen wurde, als sie ihr ihren Gatten ausgespannt hat. Diese lebt nun als eifrig ihr Revier verteidigende Mutter in dem Haus, das Rachel einst liebevoll eingerichtet hat.
Als sie eines Tages beobachtet, wie sich Megan auf ihrer Veranda in die Arme eines anderen Mannes als Scott begibt, bricht für Rachel nun auch ihre Traumwelt zusammen. Wenig später ist Megan spurlos verschwunden, es steht die Theorie im Raum, dass sie ermordet wurde – und Rachel ist im Gedanken festgefahren, dass Megan aufgrund ihrer augenscheinlichen Affäre das Zeitliche segnen musste. Oder steigert sich Rachel nur in diesen Fall hinein, um den in ihr schlummernden Verdacht zu verdrängen, sie habe Megan im Rausch zu Tode geschlagen?
Der Großteil der Handlung wird streng aus Rachels Sicht erzählt, inklusive alkoholinduzierter Blackouts, verwaschenen Erinnerungen und einem von Danny Elfmans eisiger, disharmonischer Musikuntermalung (im Stile der «Gone Girl»-Komponisten Trent Reznor & Atticus Ross) und einer herbstlich-nassen Bildsprache verstärkten Gefühl der Paranoia. Rachel lebt in einer hilflosen Situation in einer trostlosen Welt, illustriert durch Charlotte Bruus Christensens Kinematografie, die in matschigen Grau-, Grün- und Brauntönen sowie mit verschwommenem Fokus daher kommt. Von dieser Grundstimmung angetrieben gibt Blunt eine emotional aufgekratzte Performance ab: Die «Sicario»-Hauptdarstellerin wechselt mit faszinierender Intensität zwischen versoffen-aggressiv, trunken durch Selbstmitleid (und einem Übermaß an Alkohol) und verbissen an sich sowie dem ihr aufdrängenden Kriminalfall arbeitend. Blunt formt Rachel zu einer mehrfach gebrochenen Persönlichkeit, die in dem einen Moment Mitleid erweckt und im anderen durch ihre Manie abstößt.

Rebecca Ferguson («Mission: Impossible – Rogue Nation») letztlich wird als Anna sträflich unterfordert und mimt praktisch nur die besorgte Ehefrau und Mutter – dass sie trotzdem als Dreh- und Angelpunkt einiger Sequenzen auftritt, ist bloß ein Relikt aus der Romanvorlage. Es scheint ein Versuch der Filmemacher zu sein, Buchszenen, in denen Anna die Handlung vorantreibende Entdeckungen macht, vorlagengetreu auf die Leinwand zu retten. Dabei missachten sie den neu erschaffenen Filmkontext: Der «Girl on the Train»-Film ist stärker auf Rachel zentriert als der Roman, die eine verdrossene Stimmung aufbauenden, storytechnisch verzichtbaren Anna-Szenen sind der Schere zum Opfer gefallen. Dennoch für kurze, nun mehr losgelöst dastehende Momente Anna in den Fokus zu rücken, nimmt dem Film an narrativer Schärfe.
Aber selbst die Sequenzen rund um Rachel leiden darunter, dass sie mit großer Anstrengung auf die entscheidenden, den Plot vorwärtstreibenden Schlagmomente reduziert sind. Tate Taylor lässt Blunts nervliches Wrack kaum ruhen, verwechselt dabei aber eine brutal verdichtete Story mit einer den Atem raubenden Dramaturgie. Ohne Momente des Innehaltens, des Alltags oder des sich schleichend zeigenden Wandels in Rachels Persönlichkeit wird aus einer Erzählung eine Zusammenfassung: Fast jede Szene bringt «Girl on the Train» näher an die grafische Auflösung des großen Rätsels, während die Befindlichkeit der Protagonistin, ihr Kampf mit sich selbst und ihrem Umfeld nur nebensächlich sind.

Fazit: Eine auf den Inhalt gut abgestimmte, atmosphärische Optik und eine starke zentrale Performance sind manchmal einfach nicht genug: «Girl on the Train» ist ein so rastlos funktional erzählter Thriller, dass die Emotionen der Geschichte zum Erliegen kommen.
«Girl on the Train» ist ab dem 27. Oktober 2016 in vielen deutschen Kinos zu sehen.
Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
28.10.2016 17:27 Uhr 1
01.11.2016 08:34 Uhr 2
01.11.2016 14:00 Uhr 3