Sonntagsfragen

'Marvel braucht eine echte Frau!'

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Quotenmeter.de sprach mit «Doctor Strange»-Regisseur Scott Derrickson und seinen beiden Hauptdarstellern Benedict Cumberbatch und Tilda Swinton über den neuen Marvel-Eventfilm.

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Regisseur Scott Derrickson: "Wir wurden plötzlich vom Sog an Wut und Verärgerung miterfasst"


Wie sind sie an den Regieposten bei «Doctor Strange» gelangt?
Ich bin als typisch amerikanischer Durchschnittsjunge aus Denver aufgewachsen und habe Marvel-Comics förmlich verschlungen. Mein Lieblingscomic war seit jeher «Doctor Strange», und je älter ich werde, desto mehr lerne ich es zu schätzen. Zudem mochte ich die Filme des 'Marvel Cinematic Universe' sehr, ich habe sogar seit nunmehr fünf Jahren ein Marvel-Portemonnaie. Ich hätte mir aber nie vorstellen können, dass ich die Chance bekomme, selber einen Marvel-Film zu machen. Daher habe ich bei meinem ersten Meeting mit Marvel-Studios-Boss Kevin Feige sofort meinen Geldbeutel auf den Tisch geknallt und gesagt: „Ich habe das seit Jahren immer bei mir!“ Und dann haben wir über meine Faszination für die Figur gesprochen. Dass mich das Spirituelle und das Psychedelische an den Strange-Comics so sehr begeistert. Und dass Doctor Stranges Ursprungsgeschichte die in meinen Augen beste im Marvel-Comicuniversum ist, weil sie sich so sehr um sein Inneres dreht. Es geht um keine physische Transformation, sondern darum, dass sich sein Wesen verändert – ich denke, dieses Gespräch zwischen Feige und mir war ein guter Anfang.

Ich habe mir bei «Doctor Strange» aufgelegt, nicht weiter über die Möglichkeiten der Computertechnologie nachzudenken, sondern ins Gegenteil zu verkehren. Ich habe mich wortwörtlich gefragt: „Was ist unmöglich?“
Scott Derrickson
Inwieweit muss man als Regisseur eines solchen Effekte-Blockbusters über Vorwissen in Sachen Computeranimation verfügen?
Obwohl mein Wissen über die Umsetzung von Computereffekten seit Beginn meiner Laufbahn deutlich gewachsen ist, hatte ich mir bei diesem Film vorgenommen, nicht darauf zurückzugreifen. Ich habe mir bei «Doctor Strange» aufgelegt, nicht weiter über die Möglichkeiten der Computertechnologie nachzudenken, sondern ins Gegenteil zu verkehren. Ich habe mich wortwörtlich gefragt: „Was ist unmöglich?“ Nur so bin ich auf die Idee hinter einigen der Filmsequenzen gekommen. Wie etwa die Szene, in der die zentrale Action normal abläuft, alles um sie herum jedoch rückwärts. Ich dachte mir, dass es nicht machbar wäre, solch eine Szene zu drehen – und genau darum wollte ich es machen! Also haben wir Tonnen an Konzeptbildern gemacht, Storyboards gezeichnet, ein Testvideo animiert … Und während dieser Prozess ablief, haben wir schrittweise herausgefunden, wie wir das sehr wohl verwirklichen können. Es war überaus anstrengend, doch ich finde, es hat sich gelohnt.

Selbst wenn der Vergleich aufgrund der völlig unterschiedlichen Storys natürlich etwas hinkt, wird Ihr Film oftmals aufgrund des Anblicks sich verbiegender Straßenzüge mit «Inception» verglichen – wie stehen Sie dazu?
Wenn man diese Bilder mit «Inception» gleichsetzt, haben wir ja quasi „«Inception» hoch drei“ produziert. (lacht) Nicht falsch verstehen: «Inception» war für die besagte Szene unser persönlicher Fixpunkt. Ich finde, es ist ein brillanter Film und Christopher Nolan ist womöglich der visuell findungsreichste Regisseur unserer Zeit. Und dennoch dachte ich mir, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe: „Wow, das ist die Spitze eines wirklich faszinierenden Spezialeffekteisberges!“ Klar, die Produktion von «Inception» liegt nun sieben Jahre her, und vieles von dem, was wir nun machen, war damals technisch gar nicht möglich. Insofern stehe ich in der Verfolgungsjagd auf den Schultern von Christopher Nolan. So wie er auf den Schultern von «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» stand, als er die Sequenz rund um die winterliche Gebirgsfestung inszeniert hat. So geht das im Filmemachen: Wir entlehnen Dinge, stehlen und rekontextualisieren sie, wenn wir glauben, etwas ausbauen oder erweitern zu können – so bewegt sich das Kino vorwärts.

Das Drehbuch war sehr stramm strukturiert. Ich schätze, das liegt auch an meinen Wurzeln im Horrorfilm, wo ich mit viel geringeren Budgets gearbeitet habe. Da musste ich genau abwägen, was ich filme, um mit dem Geld auszukommen. Diese Gewohnheit habe ich nicht abgelegt, bloß weil ich nun über ein höheres Budget verfüge.
Scott Derrickson
«Doctor Strange» ist mit einer Laufzeit von 115 Minuten einer der kürzesten Marvel-Filme. Haben Sie ihn im Schneideraum enorm gestutzt oder war er von vornherein so bündig angelegt?
Wir haben kaum etwas geschnitten. Es gibt eine Szene, die uns letztlich nicht in den Film zu passen schien – und ich hatte erst kürzlich mit Kevin Feige ein Gespräch darüber, dass wir sie nicht ins DVD-/Blu-ray-Bonusmaterial packen werden. Denn Kevin findet sie so toll – er meint, sie müsste in einem zweiten «Doctor Strange»-Film vorkommen. Das hat mir sehr geschmeichelt. Von der abgesehen: Wir haben noch eine Szene geschnitten und eine andere um die Hälfte gekürzt. Das Drehbuch war sehr stramm strukturiert, es passiert sehr viel in den knapp zwei Stunden Laufzeit, da blieb kaum was übrig, das man hätte streichen können. Ich schätze, das liegt auch an meinen Wurzeln im Horrorfilm, wo ich mit viel geringeren Budgets gearbeitet habe. Da musste ich sehr vorausschauend an das Drehbuch herangehen, genau abwägen, was ich filme, um mit dem Geld auszukommen. Diese Gewohnheit habe ich nicht abgelegt, bloß weil ich nun über ein höheres Budget verfüge.

Ihr Ko-Autor Jon Spaihts wurde in der Presse zitiert, dass die allerersten Drehbuchentwürfe noch etwas verrückter waren, ehe Sie ein klein wenig zurück gerudert sind, um den Film nicht zu überfrachten. Welche Ideen sind dabei über Bord gegangen?
Ich habe das so nicht in Erinnerung. Wir haben eigentlich versucht, so abgefahren wie möglich zu sein. Ich habe sehr strenge Regeln verfolgt, was wir im Umgang mit Magie nicht tun sollten – nämlich auf unrealistische Texturen zurückzugreifen. Die gesamte Filmgeschichte über wurde Magie hauptsächlich durch Blitze illustriert, die jemand aus seinen Fingern verschießt, oder durch irgendwelche Energie-Flammenbälle und Lichtblitze, die aus einem Zauberstab kommen. Ich finde, es gibt keinen schlechteren Weg, Magie zu zeigen, weil wir dafür keinerlei Referenzen aus unserem Leben haben, wodurch es sich falsch oder irreal anfühlt. Deswegen hatte ich das Bestreben, Magie plastischer darzustellen, mit Texturen und visuellen Referenzen aus der Wirklichkeit. Wenn ich Konzepten widersprochen habe, dann stets denen, bei denen ich befürchtet habe, dass sie nicht greifbar genug aussehen.
Die gesamte Filmgeschichte über wurde Magie hauptsächlich durch Blitze illustriert, die jemand aus seinen Fingern verschießt, oder durch irgendwelche Energie-Flammenbälle und Lichtblitze, die aus einem Zauberstab kommen. Ich finde, es gibt keinen schlechteren Weg, Magie zu zeigen.
Scott Derrickson

So war es mein Vorschlag, dass die Magier in «Doctor Strange» ihre Fähigkeiten durch Handbewegungen steuern, statt durch Zaubersprüche. Der Weg zur endgültigen Umsetzung meines Vorschlags zeigt übrigens, wie wundervoll bei Marvel zusammengearbeitet wird. Da ich die Magie durch Gesten steuern wollte, habe ich nach Choreografen gesucht, die Bewegungsabläufe entwerfen könnten. Steven Broussard, mein ausführender Produzent, zeigte mir daraufhin ein YouTube-Video von JayFunk, einem absoluten Ass in einem Tanz namens Tutting. Ich war begeistert und wir haben ihn daraufhin nach London eingeflogen, damit wir zusammen an allen Beschwörungsgesten arbeiten konnten.


Gab es viele Vorgaben, die Sie beachten mussten, weil auf «Doctor Strange» noch so viele andere Marvel-Filme folgen, die im selben Universum spielen?
Tatsächlich nicht. Während der Produktion wurde wenig über die potentielle Zukunft von Doctor Strange im 'Marvel Cinematic Universe' gesprochen. Ich glaube, Kevin Feige wollte erstmal wenigstens den Rohschnitt abwarten. Ich hätte ja auch totalen Murks verbrechen können, und wer will dann schon Figuren aus diesem missratenen Film fest für andere Produktionen einplanen? (lacht) Was aber geschah: Ab und zu kam Kevin ans Set vorbei, um nachzuschauen, ob alles im Lot ist und ein wenig mit mir zu quasseln. Und da konnte es passieren, dass wir in dem einen Moment über Serien gesprochen haben, die wir aktuell schauen, und er mir im nächsten ohne Vorwarnung erzählt hat, wie die Handlung von «Thor: Ragnarok» abläuft. Der Fanboy in mir ist da ausgeflippt vor Begeisterung: „Oh mein Gott, ich kann es nicht fassen, ich weiß als einer der Ersten, was im MCU als nächstes passiert!“ Da ich mit Joe Russo befreundet bin, weiß ich auch schon, was in den nächsten zwei «Avengers»-Filmen geschehen wird – ich habe jedoch keinen Einfluss darauf. Die Jungs haben meine Hilfe wirklich nicht nötig.

Was die Behauptung angeht, wir hätten bei dem Film den chinesischen Markt vorm geistigen Auge gemacht und unsere Entscheidungen getroffen, um dem zu gefallen … Ich schwöre beim Leben meiner Kinder: Nein! Das haben wir nicht gemacht.
Scott Derrickson
Die Besetzung von Tilda Swinton in einer Rolle, die in den Comics ein älterer, tibetanischer Mann ist, rief ja durchaus auch kontroverse Reaktionen hervor. Und dann gab es dieses Statement Ihres Ko-Autoren, der meinte, Marvel habe verlangt, dass Sie die Figur uminterpretieren, um in China gut dazustehen und somit mehr Geld zu machen … Ihre Antwort auf diese Vorwürfe..?
Was die Behauptung angeht, wir hätten bei dem Film den chinesischen Markt vorm geistigen Auge gemacht und unsere Entscheidungen getroffen, um dem zu gefallen … Ich schwöre beim Leben meiner Kinder: Nein! Das haben wir nicht gemacht. Es gab nicht ein einziges Gespräch zu dem Thema. Wenn das in Betracht gezogen wurde, dann fanden diese Diskussionen ohne mein Wissen statt.

Was die 'Whitewashing'-Kontroverse anbelangt, so tut es mir leid, wenn meine Antwort nun zu geschwätzig ausfallen sollte. Ich bemühe mich, so knapp wie möglich zu bleiben und dennoch meine Gedanken dazu vollständig wiederzugeben: Ich finde, dass Diversität in der Rollenauswahl zu den wichtigsten Aufgaben eines Regisseurs gehört. Und ich habe das Gefühl, dass «Doctor Strange» gar nicht kontrovers aufgefasst werden würde, wäre das Timing ein anderes gewesen. Als wir Tilda besetzt haben, gab es keine Negativberichterstattung. Als wir den ersten Trailer veröffentlicht haben … dasselbe Spiel. Als aber mehr und mehr über den «Ghost in the Shell»-Realfilm bekannt wurde, und dieser sich viel Kritik gefallen lassen musste, wurden wir von diesem Sog an Wut und Verärgerung plötzlich miterfasst.

Und ich muss sagen, dass «Ghost in the Shell» ein richtig schwieriger Fall ist, ist die Vorlage doch nicht nur in Japan wichtiger Bestandteil der Popkultur, sondern zudem einer der ersten großen Animes, die auch in Amerika Erfolge feierten. Ich schätzte, dass selbst die Debatte über uns im Zusammengang mit «Ghost in the Shell» ausgeplätschert wäre, hätte mein Schreibpartner dann nicht dieses misslungene Interview geführt, in dem er mit seinen Theorien ankam.

Ich kann die Besorgung vieler Leute ja vollkommen verstehen: Eine ganze Generation an asiatischstämmigen Amerikanern ist groß geworden und blickt nun darauf zurück, wie grauenvoll Asiaten im US-amerikanischen Kino repräsentiert werden. Sie kommen kaum in Hollywood-Filmen vor und wenn doch, dann meist in üblen, boshaften Stereotypen. Ich bin mir dessen völlig bewusst. Als ich also auf die Comics geblickt hatte, starrte ich dort auf zwei Klischees: Wong und den Ältesten. Mein erster Gedanke war es, Wong völlig aus dem Film zu streichen. Seine Figur war nur ein unterwürfiger, Tee servierender Sidekick. Aber den Ältesten brauchte ich für die Geschichte, ich kann nicht den Werdegang von Doctor Strange ohne seine mystischen, weisen Lehrmeister erzählen. Daher habe ich überlegt, wie ich die Figur so uminterpretieren kann, dass ich mich wohlfühle.

Mein allererster Gedanke war, dass wir von diesem Stereotyp wegkommen, indem ich den Ältesten zu einer Frau mache. Und nicht zu irgendeiner Frau. Es sollte eine Frau mittleren Alters sein. Denn eine ältere Darstellerin würde ja auch nur wieder klischeehaft wirken. Und es sollte auch keine Frau in ihren Zwanzigern sein, die in sexy Lederkleidung jeden Fanboy zum Schwärmen bringt. Davon hat Marvel mittlerweile echt genug.
Scott Derrickson über die Besetzung von Tilda Swinton in einer ursprünglich männlich-asiatischen Rolle
Mein allererster Gedanke war daher, dass wir von diesem Stereotyp wegkommen, indem ich den Ältesten zu einer Frau mache. Und nicht zu irgendeiner Frau. Es sollte eine Frau mittleren Alters sein. Denn eine ältere Darstellerin würde ja auch nur wieder klischeehaft wirken – die weise, strenge, seltsame Asiatin, die einen westlichen Mann ins Mystische einführt. Und es sollte auch keine Frau in ihren Zwanzigern sein, die in sexy Lederkleidung jeden Fanboy zum Schwärmen bringt. Davon hat Marvel mittlerweile echt genug. (lacht) Marvel braucht eine echte Frau! Also habe ich die Rolle zunächst mit einer Asiatin im Sinn geschrieben, aber bei der Arbeit am Drehbuch bin ich immer wieder ins Stocken gekommen – die dominante, Geheimnisse bewahrende Frau aus Asien? Das ist doch nur eine stereotype Drachenlady!

Diesem Stereotypen wollte ich ebenfalls nicht beipflichten. Ich habe mir über die Jahre hinweg sehr viel Wissen über das asiatische Kino angeeignet, kenne die Werke vieler Regisseure intensiv, ich mag Animes sehr – und ich weiß daher, wie unangebracht dieser Rollentypus im US-Kino ist. Deswegen habe ich mich von der Vorstellung gelöst, dass der/die Älteste asiatisch sein muss und nur darüber nachgedacht: Wer könnte diese spezifische Rolle großartig ausfüllen. Mir kam sofort Tilda Swinton in den Sinn, und es war, als sei ein Knoten geplatzt: Erstmals konnte ich zufriedenstellend und guten Gewissens für diese Figur schreiben. Glücklicherweise hat sie die Rolle auch angenommen.

Das heißt aber nicht, dass ich jegliche Kritik an meinen Entscheidungen von mir weise. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich eine potentielle Rolle für eine asiatische Schauspielerin getilgt habe. Ich habe daher die Figur des Wong wieder in den Film genommen, als Versuch einer Entschädigung. Dabei habe ich die Figur von Grund auf neu erfunden – was ich bei dieser in der Vorlage so unbedeutenden Rolle auch ganz nach meinem Willen machen konnte. Wong ist nun klug, willensstark, eine Autoritätsperson – förmlich das Gegenteil der ursprünglichen Comicfigur.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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