Filmfacts «Die Mitte der Welt»
- Regie und Drehbuch: Jakob M. Erwa; nach dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel
- Produktion: Boris Schönfelder
- Darsteller: Louis Hofmann, Sabine Timoteo, Jannik Schümann, Ada Philine Stappenbeck, Inka Friedrich, Nina Proll, Svenja Jung, Sascha Alexander Geršak
- Kamera: Ngo The Chau
- Schnitt: Carlotta Kittel
- Musik: Paul Gallister
- Laufzeit: 115 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Der 17-jährige Phil (Louis Hofmann) kehrt aus einem Sommercamp zurück – und ist davon überwältigt, wie sehr sich in der Zwischenzeit sein Zuhause verändert hat. Ein Sturm verwüstete Teile seines überschaubaren Heimatdorfs, in dem der Homosexuelle und seine aus Amerika stammende Späthippie-Mutter Glass (Sabine Timoteo) auffallen wie bunte Hunde. Und nicht nur das Landschaftsbild ist rauer geworden, sondern auch der Tonfall in der heimischen Villa Visible: Zwischen Glass und Phils Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) herrscht absolute Funkstille. Selbst das befreundete Erwachsenenpärchen Tereza (Inka Friedrich) und Pascal (Nina Proll) weiß Phil nicht im Umgang mit dieser Situation zu helfen. Ablenkung von diesem Trubel findet Phil in seinem neuen Mitschüler Nicholas (stark: Jannik Schümann), in den er sich Hals über Kopf verliebt – obwohl seine Busenfreundin Kat (Svenja Jung) dringend vom ihrer Meinung nach merkwürdigen Typen abrät.
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Diese Ambiguität findet sich bei allen handlungsrelevanten Figuren in «Die Mitte der Welt» wieder: Glass, die liebende, vorurteilsfreie Mutter und launenhafte Liebhaberin, hat mit Dianne eine unterkühlte, strenge Teenagerin unter ihrem kunterbunten Dach leben – die aber ihrem Bruder, wenn er sie denn mal zu fassen kriegt, zur Seite steht. Die im Gegensatz zu Glass sehr vernunftbetonten Lesben Tereza und Pascal dienen Phil gewissermaßen als Ersatz für das zweite Elternteil – und fügen sich dennoch mit einem daueramüsierten Auftreten nahtlos in diese große, spleenige Patchworkfamilie ein. Die von Svenja Jung mit ansteckender Lebensfreude und Quirligkeit gespielte Kat ist eine überaus freundliche Seele, die es manchmal mit ihrer Albernheit übertreibt und die Phil gegenüber zuweilen sehr besitzergreifend sein kann. Und der von Phil vergötterte Nicholas? Der ist wortkarg, rätselhaft und gibt sich schroff sowie streng – hat im Umgang mit Phil jedoch auch eine zärtliche, zugleich beschützende Attitüde, die er an den Tag legen kann.
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Der Autor und Regisseur überträgt diese emotionale Instabilität zudem auf den gesamten Film – tonal-narrativ sowie ästhetisch: Phasenweise spielt er mit der Vorstellung, dass sich rund um Visible gar mystische Dinge ereignen, inklusive dunklerer Bildsprache und ernster Musik. Andere Male ist «Die Mitte der Welt» ein „So schön ist mein Sommer“-YouTube-Clip mit Handkameraaufnahmen glücklicher Freunde, die rumalbern, während fetzige Popmusik läuft. Andere Passagen sind sehr überdreht, visualisieren Phils Gedankenwelt durch verspielte Collagen, dadurch, dass sich das gesamte Bild rot einfärbt oder surreale Szenen in bester «Scrubs»-Manier zeigen, was Phil sich gerade so vorstellt. Andere Male ist es ein subtiles, ruhiges Drama über Freundschaft und die Flexibilität des Familiengeflechts. Oder eine zärtliche Jugendromanze.
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Eingebettet in malerische Bilder des begnadeten Kameramanns Ngo The Chau («Stereo») und durch teils sehr poetische Szenenübergänge und Montagen verformt, entwickelt «Die Mitte der Welt» somit eine melancholische Märchenstimmung, in der sich wohlbehütete, traumhafte Momente mit Situationen der Verletzlichkeit und welterschütternden Ärgernissen abwechseln. Nur eines wird nie dramatisiert: Phils sexuelle Identität. «Die Mitte der Welt» mag ein Coming-of-Age-, nicht aber ein Coming-out-Film sein. Erwas Film geht mit erfreulicher Gelassenheit mit Homosexualität um, zeigt Phils erstes Mal mit einer Sinnlichkeit und Hingabe, die sämtliche Sexszenen der jüngeren deutschen Kinovergangenheit blass und leblos dastehen lässt. Somit ist «Die Mitte der Welt» eine vorbildliche Ausnahme vom bisherigen Filmalltag: Er zeigt, dass Jugendliche viele Sorgen haben, und dass manche von ihnen auch rauf und runter analysiert werden müssen. Doch Sexualität sollte selbstredend und alltäglich sein.
Fazit: Ein schillerndes, emotional überschwängliches und zugleich klug geschriebenes Porträt eines Jugendlichen, der nach dem Mittelpunkt seines Daseins sucht: Ein großartiges Ensemble und eine wundervolle Bild- sowie Klangästhetik machen «Die Mitte der Welt» zu einem spleenigen, lebhaften Film mit melancholischen Zwischentönen.
«Die Mitte der Welt» ist ab dem 10. November 2016 in vielen deutschen Kinos zu sehen.
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09.11.2016 21:43 Uhr 1