Beeindruckende, nachdenklich stimmende und gleichzeitig euphorische Worte kommen aus dem Mund von Olaf Scholz, Hamburgs erstem Bürgermeister. Es ist der 11. Januar 2017, Tag der Eröffnung der Elbphilharmonie, dem wahlweise größten, modernsten oder akustisch beeindruckendsten Konzerthaus der Welt – je nach Schlagzeile. Superlative werden an diesem Abend gern gebraucht, auch nach den ersten Takten des Orchesters, die den Saal erfüllen. Später sagt man: Die Elbphilharmonie hat ihr Klangversprechen eingehalten.
Man hat das Gefühl, dass es an diesem Tag um mehr geht als nur die Eröffnung eines tollen Konzerthauses. Inmitten solcher – von Scholz angesprochenen – Zeiten, die von Terrormeldungen, Angstkommunikation und gesellschaftlichem Zerfall geprägt sind, erscheint die neue Elbphilharmonie wie ein sprichwörtlicher „Fels in der Brandung“. Eine Nachricht, an der man sich aufrichten kann; eine, die positiv stimmt und ablenkt vom negativen Grundrauschen, das sonst in den Nachrichten dieser Zeit umherschwirrt. Kultur hat eine integrative Kraft, erweitert den Horizont, erfordert den Diskurs, den wir derzeit bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen so schmerzlich vermissen. Kurz: Kultur verbindet Kulturen. „Kaum etwas brauchen wir mehr in unseren Zeiten.“ Olaf Scholz´ Worte hallen nach.
Das deutsche Fernsehen berichtete ausführlich über die Eröffnung der Elbphilharmonie, nicht nur an diesem 11. Januar. Wochen, teils Monate vorher zeigte der NDR Dokus über das Bauwerk, es wurde diskutiert über den Sinn und Unsinn eines solch teuren öffentlichen Projekts. Nun ist man fertig, die Eröffnungszeremonie wird live in der ganzen Welt übertragen, beim NDR, bei YouTube. Dort hat man dem Zuschauer sogar einen Platz im Saal reserviert, mit VR-Brille kann er das Geschehen hautnah in 360 Grad erleben. Zusammenfassungen und Ausschnitte laufen auch in den großen Programmen, Das Erste zeigt eine 45-minütige Doku, die Macher und Besucher an diesem Eröffnungstag begleitet. Lange Passagen aus dem ersten Konzert werden in all diesen Programmen gesendet.
Würde solch ungewohnte Hochkultur die Fernsehzuschauer interessieren? Sie würde. Rund 2,5 Millionen Menschen sahen das gesamte mehrstündige Eröffnungskonzert im NDR, das ab 20.15 Uhr gesendet wurde. Es übertraf damit die Reichweiten von beispielsweise ProSieben und Sat.1 an diesem Abend. Zwei Dokus am späten Abend im Ersten sahen mehr als 1,5 Millionen Menschen. Solche Zahlen dürften Kulturprogramme im deutschen Fernsehen schon lange nicht mehr erreicht haben.
Auch König Fußball hätte bei arte weniger Zuschauer
Oft wird gefragt: Wie viel verträgt das deutsche Fernsehen? Wie viel Trash-TV verträgt es, wie viel Reality, wie viele Krimiserien? Bei der Kultur sollte es andersherum sein: „Wie wenig Kultur verträgt das deutsche Fernsehen?“ ist die Frage, die sich angesichts des mageren Angebots stellen muss. Die vielfach medial begleitete Elbphilharmonie-Eröffnung zeigt jedoch das Potenzial von Kultur, auch bei den größeren Sendern. Das Argument, das gern angeführt wird, ist: Es gibt viel Kultur-TV, vielleicht mehr als je zuvor durch eigene Sender wie arte oder 3sat. Ein Gegenargument wäre: Hier erreicht Kultur eben nur die Eliten, die diese Programme aktiv einschalten. Dort bleibt das anspruchsvolle Fernsehen absolute Nische, während es bei großen Programmen wie dem Ersten automatisch ein größeres Publikum erhält. Und damit den dringend benötigten Diskurs. Es ist eine ähnliche Argumentation, die beispielsweise Randsportarten anbringen, wenn sie Präsenz im Fernsehen fordern. Umgekehrt würde auch der Fußball viel weniger Zuschauer haben, würde er plötzlich bei arte gezeigt.
Daher ist die Rückkehr des «Literarischen Quartetts» im ZDF immens wichtig. Lange fehlte eine große Plattform für die Literatur, das neue Quartett erfüllt sie. Selbstverständlich erreicht man nicht das Diskussionsniveau, das Reich-Ranicki und Co. einst prägten; mit den neuen Teilnehmern bleibt das Format bisweilen oberflächlich. Dies ist gerade im Vergleich zu anderen großen Literatursendungen wie «lesenswert» erkennbar. Davon unabhängig erreicht «Das Literarische Quartett» das, was es eigentlich will: Lust auf Lesen zu machen. Maxim Biller durchbrach die befürchtete Wohlfühl-Atmosphäre und rieb sich an seinen Gesprächspartnern; der Krawall-Intellektuelle und die beiden anderen Gastgeber Volker Weidemann und Christine Westermann bildeten gute Gegenpole.
Leider verlässt Biller das Format – einen gleichwertigen Ersatz wird das ZDF nur schwerlich finden. Bisher, mit ihm, ist die Neuauflage der großen Literatursendung gut gelungen. Sie steht stellvertretend für die Möglichkeiten, die Kultur erreichen kann im Fernsehen. Sie fordert die Öffentlich-Rechtlichen auf, mehr zu tun, und zwar abseits der Nische. Die fatale Einstellung der ZDF-Formate «Nachtstudio» und «Das philosophische Quartett» im Jahr 2012 hallt noch nach; der bereits geringe Anteil kultureller Formate sank dadurch noch. Vielleicht auch wegen der geringen Kulturpräsenz bei großen Sendern haben sich neue Nischen aufgetan: Sky investiert mit Sky Arts in das Fach, mit noch internationalerer Programmausrichtung als beispielsweise 3sat oder arte. Freunde klassischer Musik können mittlerweile aus einem reichhaltigen Angebot wählen, dem Streaming sei Dank. Die Dienste heißen Classica, Medici TV oder Idagio. Große Orchester ziehen ihre eigenen Angebote auf, so die Berliner Philharmoniker mit ihrer „Digital Concert Hall“. Bis auch Netflix sich der Hochkultur verschreibt, dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Schließlich gibt die Zielgruppe gern Geld aus für gute Erlebnisse.
„Ich habe immer an einem Fernsehen gehangen, von dem ich dachte, es muss Minderheiteninteressen zirkulieren lassen, es muss ein Medium sein, in dem sich Gesellschaft reflektiert. Es müsste eine Volksbildungsanstalt sein, ein Auffangbecken für alles, was in der Welt wichtig genannt werden kann. […] Das Fernsehen ist ein Medium der Abstimmung, jeden Abend mit der Fernbedienung wird abgestimmt. Und wenn ich abstimmen kann, will ich Faust II oder «Gute Zeiten, schlechte Zeiten» sehen, dann werden viele Menschen sagen: ‚Na dann lieber «Gute Zeiten, schlechte Zeiten», mein Leben ist schon anstrengend genug.‘ Aber Kultur besteht aus Überforderung. Und jeder Mensch wächst dadurch, dass er überfordert wird.“ Vor vielen Jahren sprach der Publizist und ehemalige Moderator Roger Willemsen so über das Fernsehen und dessen Unterforderungsagenda, das schon lange implizit fragt: Wie wenig Kultur verträgt es?
Die Eröffnung der Elbphilharmonie hat Willemsen leider nicht mehr erlebt. Er hätte sich über sie gefreut.
Es gibt 6 Kommentare zum Artikel
19.01.2017 12:31 Uhr 1
19.01.2017 12:44 Uhr 2
19.01.2017 12:58 Uhr 3
19.01.2017 13:12 Uhr 4
19.01.2017 13:46 Uhr 5
20.01.2017 01:27 Uhr 6
Dann durfte auch vom zuküftigen Berliner Flughafen BER keiner fliegen, da die Kosten unendlich in die Höhe gewachsen sind!