Beipackzettel
Ein Großraumbüro, spät in der Nacht. Nur noch ein Schlipsträger hängt vor dem unnatürlichen Glühen seines Computerbildschirms, wie besessen hantiert er mit Zahlen, als ihm ein Brief eines Vorgesetzten ins Auge fällt. In diesem spricht der in eine Schweizer Erholungsstätte geflohene Vorstandsvorsitzende Pembroke (Harry Groener) in finsteren Worten die Diagnose aus, wir seien alle von einer Krankheit befallen und müssten Heilung und Ruhe finden. Kurz darauf stirbt der wortkarge Schreibtischtäter. Ob er vor Überarbeitung gestorben ist oder weil er die oberflächlich so psychotisch formulierte, doch grausame Wahrheit in Händen hielt? Danach fragt in seiner Firma niemand.
Entspannung. Stillstand. Reinheit – nicht nur der Seele. Wer sich jung fühlen will, muss konsequent durchgreifen in seiner Wellness-Behandlung. Mit gepflegter Haut, nimmermüdem Auftreten und Gelassenheit wird man schließlich nicht von allein gesegnet. Fühlen Sie sich wohl?
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Was man Langeweile nennt, ist eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Akzeptieren Sie die Diagnose!
Wer sich nur oberflächlich mit den Regiearbeiten Gore Verbinskis beschäftigt, könnte in Versuchung geraten, die im «A Cure for Wellness»-Marketing wiederholt getätigte Behauptung, er sei ein Visionär, als haltlos abzustempeln. Aber weit gefehlt. Der studierte Filmwissenschaftler, der seine professionelle Laufbahn als Musikvideo-Regisseur begonnen hat, weist etwas auf, das vor allem im Big-Budget-Kino vom Aussterben bedroht ist: Eine markante Handschrift, die dennoch flexibel genug ist, um Filmen unterschiedlicher Couleur gerecht zu werden. So eint Verbinskis Regiearbeiten vor allem eins: Sie vermengen diverse Tonalitäten und Filmgattungen, verneigen sich dabei vor der Historie ihres jeweiligen Hauptgenres – und sind dennoch äußerst individuelle Biester.
Diese Andersartigkeit bringt Verbinskis Filmen zuweilen großen Respekt und Erfolg ein. Sein Horror-Meisterwerk «Ring» wird beharrlich zu den eindringlichsten Genrestücken sowie zu den besten Remakes unserer Zeit gezählt – gerade, weil es nicht allein auf Schockmomente setzt, sondern ein intensiver Crime-Thriller mit in Mark und Bein übergehenden Horrorelementen ist. Verbinskis drei Beiträge zur «Fluch der Karibik»-Saga sind für unter Disney-Flagge auflaufende Abenteuerblockbuster verdammt düster und zudem verflucht-verwegene Mixturen aus Bombastunterhaltung, selbstbewusstem Slapstick, epochaler Fantasy-Mythologie und leichtgängiger Piratenaction – inszeniert mit der Wucht und Attitüde von Rockopern, aufgebaut nach der Logik von Spaghettiwestern. Eine volle Breitseite, die der Regisseur auf sein Publikum losließ – und dennoch waren diese äußerst verqueren Produktionen mit allen Salzwassern gewaschene Hits.
Mitunter scheint Verbinski seiner Zeit allerdings voraus zu sein: Als Regisseur, der nach eigener Aussage primär Filme nach seinem waghalsigen Gusto inszeniert, ist der bei aller Verrücktheit bis ins kleinste Detail Sorgfalt walten lassende Filmemacher wohl dazu verdammt, gelegentlich am kontemporären Massengeschmack vorbeizudrehen. Umso mehr reifen seine Arbeiten aber mit der Zeit – wie «Lone Ranger», eine immens unterschätzte, virtuose Achterbahnfahrt durch das gesamte Westerngenre mit all seinen Weltanschauungen, Erzähltempi und Härtegraden. Wenn so jemand nun durch ein Genrelabyrinth schreitet, dessen Korridore die Gefilde des Thrillers, Horrors sowie des surreal angehauchten Psychodramas durchziehen, dann geht das schlichtweg nicht ohne großes Tamtam.
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Die Zweifler denken eben, man könne ein Bild malen, ohne sich den Kittel zu beschmutzen ... Doch der Weg zur Reinheit verlangt manchmal dreckige Augenblicke.
Verbinski, der sich die Geschichte von «A Cure for Wellness» gemeinsam mit «Zeiten des Aufruhrs»-Drehbuchautor Justin Haythe ausgedacht hat, erschafft sein komplexes Schauergemälde mittels einer widersprüchlichen Herangehensweise. An der Oberfläche dieses Suspensestücks, das die Tonalität einer jugendgotischen Erzählung mit der Atmosphäre des galanteren 70er-Gruselkinos und dem Verve der Hammer-Studios zu ihren Blütezeiten verschränkt, arbeitet der Oscar-Preisträger mit grobschlächtiger Symbolik: Workaholic Lockhart hat sich im Schnellzug seinen eigenen, kleinen Chaosschreibtisch aufgebaut – inklusive Nikotinkaugummi, Energiedrink, stapelweise Unterlagen und dem unvermeidlichen Laptop, auf dessen Tastatur der Manager einhämmert, als gäbe es einen Preis fürs Tastenmalträtieren. Kaum steht fest, dass Lockhart längere Zeit im Wellness-Sanatorium verweilen wird, bleibt seine Uhr stehen. Und das vornehmlich an Wirtschaftsmagnaten gerichtete Spa begann seine Geschichte als Ort eines dubiosen Adligen – die Ausbeuter von heute treffen sich im Anwesen der Leuteschinder von einst.
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Daher ist nicht ganz eindeutig, in welcher Art Filmuniversum «A Cure for Wellness» denn nun spielt. Beginnt all dies in einem direkten Abbild unserer Realität? Nur betrachtet durch die meisterlich geführte Kamera Bojan Bazellis («Ring»), der die Wirklichkeit so ausleuchtet, dass sie ein kränkliches Grün-Blau-Grau annimmt und fast sämtliche Rottöne und somit an Wärme verliert? Sind die zunehmend abstruseren Geschehnisse im Erholungszentrum nur Einbildung, dem Kinopublikum nahe gebracht durch einen unglaubwürdigen Erzähler? Ist «A Cure for Wellness» vielleicht eher eine die Wirklichkeit verzerrende, mahnende Metapher vor der völligen Verausgabung? Eine dunkelromantische, von Weltschmerz durchzogene Selbstfindungsgeschichte vor abgeschmacktem Hintergrund? Oder eher ein besonders malerisch verwirklichter Nervenheilanstaltsschocker mit für intellektuellen Anspruch sorgenden Verweisen auf Thomas Manns Bildungsroman «Der Zauberberg»?
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