Untertauchen, bis der eigene Vorteil winkt
Die Eingeweihten nennen diese Leutchen "PV-Touristen". Sie sind der Gegenentwurf zu den "U-Boot-Christen", also Leuten, die nur an Weihnachten auf einmal ganz religiös sind und in die Kirche gehen. PV-Touristen sind fast ausnahmslos männlich (in den Kommentaren sind Erklärungsversuche gern gesehen) und betätigen sich weder haupt- noch nebenberuflich im Feld des Filmjournalismus, sei es noch so oberflächlich. Ein Großteil der PV-Touristen führt nicht einmal hobbymäßig einen Blog, die meisten haben aber (alltäglich nebenher geführte) Social-Media-Accounts, die sie unregelmäßig ordentlich pushen, indem sie ihre Freunde mit harschen Meinungen zu demnächst startenden Filmen überraschen. Und sie kommen nur alle paar Monate mal zu PVs, weil sie Bock auf den Film haben.
Überraschung, Überraschung: Die wenigsten von ihnen tauchen zu Kleinproduktionen auf. Ein paar zu neuen Filmen berühmter, angesehener Regisseure. Und sie alle sind da, wenn der neuste Übermegariesenblockbuster startet. Den sie fast alle auf Twitter, Snapchat, Instagram und/oder Facebook brutal verreißen. Auch Ben Beispiel. "#BvIM? Wohl eher #Bullshit. Burgermeister, over and out" twittert er nach Embargoende (sieben Stunden vor Kinostart). 523 Retweets, 673 Likes. "Danke Ben, endlich einer, der sich aufzumucken traut gegen den Industriekommerz!", schreibt Chef Cheffington und leistet damit den beliebtesten Subtweet. Maria Musters Link zu ihrer mühevoll in die Tasten gehämmerten Kritik? 9 Retweets, 18 Likes.
... denn die Agenturen wissen, was ihre Kontakte tun!
Die Leute von den Agenturen wissen ganz genau, wer nicht mehr über Filme schreibt, podcastet oder Videos dreht. Aber sie tun nur selten was dagegen. Wie erwähnt: PVs sind wie Herpes. Oder wie Pringles: Einmal gepoppt, nie mehr gestoppt. Wenn nicht gerade ein gigantischer Bock geschossen wird (eine Handvoll von Embargos ignorieren, Torrentlinks bei Twitter teilen, während einer PV den Film via Periscope an die Follower streamen), bleibt man Teil der Kritikerwelt. Und die guten Geister der Presseagenturen stehen peinlich berührt daneben. Aber was sollen sie auch tun? Ihnen sind die Hände gebunden, denn wenn sie erstmal Präzedenzfälle schaffen, dann wird es in der gemeinhin friedlichen Kritikerwelt aber drunter und drüber gehen.
Denn, ja: Es gibt sie. Die Fieslinge, die das PV-System dreist ausnutzen. Aber vor allem gibt es viele, viele Grauzonen. Maria Muster war neulich in sechs Filmen hintereinander, über die sie nicht geschrieben hat, weil ihr Auftraggeber sich doch dagegen entschieden hat, diese Produktionen zu thematisieren. Soll sie etwa jetzt schon einen Rüffel kriegen? Peter Pechmann hat in vier Jahren bei drei Portalen gejobbt, die pleite gingen. In den Phasen, in denen er keine Stelle hatte, ging er als "Freier auf Suche" weiter zu PVs. Um seinen in Arbeitsphasen aus Zeitmangel wenig gepflegten Blog auf Trab zu halten und so eine digitale Visitenkarte aufzubauen. Und Robert Ruhestand? Ey, der ist eine lebende Legende des Filmdiskurses! Soll der mit seiner mickrigen Rente alle Kinobesuche aus eigener Tasche bezahlen, damit er auf dem aktuellen Stand bleibt und somit weiter was als unregelmäßiger Talkgast bei befreundeten YouTubern taugt oder als Gastkolumnist bei überregionalen Magazinen?
Also lassen die Agenturen lieber im Regelfall Milde walten. Für Robert Ruhestand. Für Peter Pechmann. Und Maria Muster. Selbst wenn dadurch Siegfried Schmarotzer im Netz weiter Hass auf jeden Film schüren kann, den er je gesehen hat (und da er sonst nichts zu tun hat, ist er ein sehr geschäftiger PV-Tourist). Und selbst wenn ein zur dunklen Seite des Burgerbrötchens gewanderter Ben Beispiel somit seinen Reichtum mehren kann. Jetzt verdient er besser als Maria Muster. Und muss für seine wenigen Freizeitkinobesuche nicht mehr bezahlen.
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