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«Aktenzeichen XY…ungelöst»: Warum schauen wir’s?

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Schon seit 1967 hält sich die ZDF-Reihe im deutschen Fernsehen und erzielt dabei immer noch großartige Zahlen. Was reizt die Fernsehzuschauer aus psychologischer Sicht am True Crime-Format?

Zur Medienpsychologie

Die Medienpsychologie ist ein Zweig der Psychologie, der sich in der Forschung mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens, das mit Medien verknüpft ist, beschäftigt. Kern der Medienpsychologie als psychologische Teildisziplin, ist die Untersuchung des Handelns, des Denkens und des Fühlens im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien.
Wikipedia
Nichts ist so furchterregend, so aufwühlend wie die Realität. Auch eingefleischte Fans von Horrorfilmen werden zu diesem Schluss kommen. So müssen wohl alle Fernsehzuschauer konstatieren, dass kein «Tatort»-Mörder, kein blutiger Overkill in einem Tarantino-Film und kein Schreckmoment in Filmen wie «Halloween» oder «Nightmare on Elm Street» ein so nachhaltig mulmiges Gefühl hinterlassen wie Fälle «Aktenzeichen XY…ungelöst». Und das aus gutem Grund, schließlich wartet die ZDF-Fernsehreihe mit echten Verbrechen auf, die zuweilen unter die Haut gehen.

Schon seit 1967 hält sich das Format im Programm des Zweiten. In mittlerweile über 500 Folgen sollen in zwölf Folgen jährlich ungeklärte Straftaten als Teil einer Öffentlichkeitsfahndung aufgeklärt werden. Drei bis sechs ungelöste Kriminalfälle werden den Zuschauern im Zuge etwa zehnminütiger filmischer Rekonstruktionen vorgestellt, die die polizeilich ermittelten Fakten veranschaulichen sollen. In den sogenannten „Studiofällen“ werden außerdem Personenfotos, Phantombilder oder Abbildungen markanter Gegenstände eingeblendet, die von Zuschauern erkannt werden könnten, um nach Verbrechern oder der Identität unbekannter Toter zu fahnden. Nach Angaben der Redaktion werden im Schnitt etwa 40 Prozent der ausgestrahlten Fälle aufgelöst, auch weil die Zuschauer sich so rege am Format beteiligen. Noch immer erzielt die Sendung dabei enorm hohe Zuschauerzahlen. Was steckt hinter dem Erfolg von «Aktenzeichen XY…ungelöst»?

True Crime-Hit, noch bevor True Crime große Hits schuf


Was sind True Crime-Formate?

Unter dem Genre True Crime oder auch Real Crime werden nicht-fiktionale Formate zusammengefasst, die ein reales Verbrechen behandeln und dabei wahre Details zu den Taten realer Personen darstellen. Meist behandeln sie einen Mord, am häufigsten das Leben und die Taten von Serienmördern. True Crime-Formate behandeln jedoch beispielsweise auch die Memoiren von Polizisten oder Ermittlern, sogar Reality-Polizei-Sendungen werden dem Genre zugeschrieben.
«Aktenzeichen XY…ungelöst» ist True Crime auf Deutsch – und das war es auch schon zu einer Zeit, in der das Genre noch weitaus weniger populär war. Die jüngere Vergangenheit brachte einen wahren Hype um allerlei Formate, die sich mit wahren Verbrechen befassen, nicht nur im klassischen Fernsehen. Mit der Doku-Serie «Making a Murderer» generierte Netflix enorme Aufmerksamkeit um den Fall Steven Avery, im gleichen Jahr fesselte die HBO-Doku «The Jinx» mit der Geschichte um den exzentrischen Millionär und möglichen Serienkiller Robert Durst unzählige Menschen in den USA. Mit Formaten wie „Serial“ erfreuen sich selbst True Crime-Podcast mittlerweile einer enorm hohen Beliebtheit und in den USA bestreitet der Kanal Investigation Discovery sogar ausschließlich mit True Crime-Formaten sein Programm.

Natürlich, eine Reihe wie «Aktenzeichen XY…ungelöst» hat wenig mit der Hochglanz-Aufmachung von True Crime-Formaten amerikanischer Kabelsender zu tun. Dennoch birgt auch das ZDF-Format die gleichen Komponenten, die derartige Sendungen aus dem Bereich des True Crime aus psychologischer Sicht so unterhaltsam für Fernsehzuschauer machen. Obwohl «Aktenzeichen XY…ungelöst» vergleichsweise unaufgeregt daherkommt und in seiner Konzeption nicht auf Effekthascherei setzt, gehören Formate wie der ZDF-Dauerbrenner zu den Formaten, die die höchste innere Erregung beim Fernsehzuschauer nach sich ziehen.

Für viele Fernsehzuschauer spielt dies, gleichwohl in den meisten Fällen unbewusst, eine entscheidende Rolle beim Auswahlprozess von Medieninhalten. Die Medienpsychologie definierte hierfür den Begriff der Aktivierung, der das Auslösen von Emotionen in Form besagter innerer Erregung bezeichnet. Der Forscher Dolf Zillmann fand im Rahmen eines Experiments im Jahr 1988 heraus, das verschiedene Fernsehgenres über unterschiedlich hohe Aktivierungspotenziale verfügen. Am unteren Ende der Skala fanden sich nach den Befunden Zillmann Naturfilme wieder, während beispielsweise gewalthaltige, furchterregende Filme zu einer hohen Aktivierung führten. Die höchste Aktivierung bewirkten jedoch nicht-fiktionale Programme: Sport, Erotik oder eben True Crime, dem «Aktenzeichen XY…ungelöst» trotz seiner inszenierten Nachstellungen polizeilich ermittelter Erkenntnisse zuzuordnen ist.

Wie die Evolution uns zu True Crime-Fans machte


Doch wie kann es sein, dass Formate wie «Aktenzeichen XY…ungelöst», die fast gänzlich auf spektakuläre Inszenierungen verzichten, eine so große Wirkung auf den Geist des Zuschauers haben? Die Antwort liegt evolutionspsychologisch begründet. Erst in der jüngeren Vergangenheit hat sich die Medienpsychologie, die bis dahin in erster Linie mit kognitiven und verhaltensbezogenen Fragestellungen hantierte, begonnen, Medien auch aus einer emotionspsychologischen Perspektive zu betrachten. Emotionale Prozesse dienten bereits über die gesamte Zeitspanne menschlichen Zusammenlebens als grundlegende Komponenten für unser mentales Funktionieren und entwickelten sich über die Evolution des Menschen hinweg zu zentralen Bestandteilen unserer mentalen Architektur.

So lösen gewisse Hinweisreize aus unserer Umgebung ganz unwillkürlich emotionale Prozesse in unserem Organismus aus, um eine schnelle Einschätzung der Situation zu erlauben und gegebenenfalls rasch reagieren zu können. So kann es geschehen, dass auch unbewusst kognitive und physiologische Prozesse, unter anderem die beim True Crime vermutete hohe Erregung, in Gang gesetzt werden. Spätestens mit der Einführung des Privatfernsehens zielte das Medium Fernsehen auf die Emotionalisierung seiner Zuschauer ab. In Zusammenhang mit bestimmten Formaten im Privatfernsehen, insbesondere solchen aus dem Reality-Genre, etablierte sich sogar der Begriff des besonders emotionalisierenden „Affektfernsehens“.

Authentizität als Schlüssel


Zum Begriff "Affektfernsehen"

Affektfernsehen ist ein medienpsychologischer Neologismus für unterschiedliche moderne Fernsehformate wie Talk-, Beziehungs- oder Spielshows. Es bezieht sich auf jene Fernsehangebote, die die Eigenschaften der Zentrierung auf Einzelschicksale, der Fokussierung auf emotionale Befindlichkeiten und der Überschreitung der Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit umfassen.
Dem Affektfernsehen ist «Aktenzeichen XY…ungelöst» nicht zuzuordnen, nach der Definition umfasst diese Bezeichnung nämlich Formate, die maßgeblich auf den Komponenten, Personalisierung, Intimisierung, Emotionalisierung und Authentizität beruhen (vgl. Beitrag dieser Reihe «DSDS»: Warum schauen wir’s?). Drei von vier Merkmalen treffen auf «Aktenzeichen XY…ungelöst» nicht zu, gerade die hohe Authentizität macht die emotionale Wirkung der Fernsehreihe jedoch aus. Nach dem „Sense of Reality“-Konzept von Ortony und Kollegen aus dem Jahr 1988 hängt die Intensität einer Emotion unter anderem davon ab, wie sehr die Person die emotionsinduzierenden Reize und Situationen als real erlebt, weshalb eine höher empfundene Authentizität der Inhalte auch emotionalisierender wirkt. Durch die Gewissheit des Zuschauers, dass man es in «Aktenzeichen XY…ungelöst» mit wahren, sogar ungelösten Verbrechen zu tun hat, ist dieser „Sense of Reality“ stets präsent. Ebenfalls 1988 stellte außerdem Frijda das „Gesetz der augenscheinlichen Realität“ auf, wonach die Intensität von Emotionen mit dem Realitätsgrad der Darstellungen korrespondiert.

Obwohl die innere und emotionale Erregung für den Zuschauer oft nicht greifbar ist, entfalten Sendungen wie «Aktenzeichen XY…ungelöst» also ein ungemein emotionalisierendes und aktivierendes Potenzial. Dass der Zuschauer dies auch entfalten lassen will, ist nicht gleich gesagt und hängt sowohl von Veranlagungen als auch von situationsspezifischen Nutzungsbedürfnissen ab. Zum einen identifizierte die Psychologie und Humangenetik durch Zwillingsstudien eine genetisch unterschiedlich verankerte Tendenz zum sogenannten Sensation Seeking, die unter anderem die Suche nach aktivierenden Medieninhalten umfasst. Den Befunden zufolge sind etwa zwei Drittel dieser Sensationslust vererbt, ein Dritte durch die Umwelt geprägt. Zudem zeigten Männer in Studien stärkere Ausprägungen im Hinblick auf das Sensation Seeking.

Über den Uses and Gratifications-Ansatz

Der Nutzen- und Belohnungsansatz (auch Uses-and-Gratifications-Ansatz) ist ein Modell der Mediennutzungsforschung. Ziel des kommunikationstheoretischen Ansatzes ist es, die Motive für die Mediennutzung der Rezipienten, also der Nutzer, herauszufinden. Der Rezipient entscheidet aus seiner Interessenlage und aus seiner Bedürfnislage heraus, ob und was für ein Medienangebot er nutzt. Die Nutzung eines Mediums richtet sich also nach der Nutzenerwartung und der Bedürfnisbefriedigung des Medienangebots.
Wikipedia
Wie der von Elihu Katz Anfang der 1960er Jahre definierte „Uses and Gratifications-Ansatz“ nahelegt, werden Formate wie «Aktenzeichen XY…ungelöst», die in gewisser Weise Erregung versprechen, aber auch in Situationen ausgewählt, in der eine Person eine niedrige innere Erregung verspürt, die vom Menschen als unangenehm empfunden wird. Dies können unter anderem Langeweile oder die Folgen von Arbeitsstress im Feierabend sein. Diese niedrige innere Erregung soll dann durch Medieninhalte mit ausreichend Aktivierungspotenzial auf das als angenehm empfundene mittlere Erregungsniveau gesteigert werden.

Zumindest für die Medienpsychologie stellt der langanhaltende Erfolg von «Aktenzeichen XY…ungelöst» also keinen Zufall dar. Viel mehr bedienen True Crime-Formate wie die ZDF-Reihe zentrale Komponenten unserer mentalen Architektur und individuelle psychologische Bedürfnisse ihrer Zuschauer. So machen Formate wie «Aktenzeichen XY…ungelöst» vor, das im Fernsehen auch Sendungen ohne effekthascherische Elemente Erfolg haben können – dem emotionalen Wesen des Menschen sei Dank.

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