360 Grad

«Auserwählt und Ausgegrenzt»: Kein Antisemitismus, nirgends!

von   |  4 Kommentare

Die vom WDR und arte nur widerwillig ausgestrahlte exzellente Dokumentation über den heutigen Antisemitismus deckte erschreckende Zustände auf – auch bei den Entscheidungsträgern der Sender.

Einer der Gäste in der bekannten und populären französischen Talk-Show «On n’est pas couché» am vergangenen Samstagabend war der jüdische Schauspieler und Humorist Michel Boujenah. Eigentlich wollte man mit ihm über sein neues Bühnenprogramm sprechen, stattdessen ging es die meiste Zeit um Antisemitismus. Er sprach mit einer aufrichtigen Leidenschaft und Betroffenheit, und ja, auch mit etwas Pathos. Doch der war angebracht. “Was haben wir Juden getan, um so verfolgt zu werden?“, fragte er. Über Jahrhunderte, auch heute, auch in Europa, auch in Frankreich.

Die WDR- und arte-Dokumentation «Auserwählt und Ausgegrenzt» beschäftigt sich mit einem ähnlichen Untersuchungsfeld. Weder der WDR noch arte wollten sie zunächst senden; eine Entscheidung, die sie mit vermeintlichen journalistischen Mängeln begründeten. Insbesondere sei nicht allen Objekten der Berichterstattung die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden, vor allem einigen Nichtregierungsorganisationen, die, so die Autoren des Films, von antisemitischen Strukturen nicht immer klar trennbar seien. Wer die Ausstrahlung im Ersten am vergangenen Mittwoch gesehen hat, wird erkannt haben, dass es sich hier nicht um gravierende handwerkliche oder berufsethische Fehler gehandelt hat, sondern um Bagatellen. Das Geschacher war eine einzige Farce, bei der sich ARD und arte schließlich ins Unappetitliche gehende, aber eben leider nicht vollständig von der Hand zu weisende Erklärungsansätze gefallen lassen mussten: Nämlich dass die Sendeanstalten mit dem inhaltlichen Ergebnis der Dokumentation – nämlich einer grassierenden antisemitischen Ideologie in Europa, im linken politischen Spektrum wie im rechten, die sich als Antizionismus und Antiamerikanismus tarnt – nicht einverstanden waren.

Nicht minder erstaunlich: der Faktencheck, mit dem der WDR den Film passagenweise kommentiert, um die vermeintlichen Mängel kohärent zu erfassen. Doch was sich zunächst wie Transparenz anhören mag, stellt sich bald als eine intellektuelle Zumutung heraus. Denn dieser Faktencheck ist eher ein Ideologiecheck, dem kein Vorwand zu schade ist, die Thesen der Autoren zu relativieren, wobei er nicht nur erneut auf die vermeintlich nicht eingeholten Stellungnahmen besagter NGOs hinweist. In dreistester Augenwischerei legt man sich dort eine antisemitische Rede von Mahmoud Abbas im europäischen Parlament so zurecht, dass sie nicht mehr ganz so unappetitlich klingt, die antisemitischen Schriften Martin Luthers werden als bloßer Ausdruck ihrer Zeit verharmlost, die antijudaistisch-antisemitische Tradition des Christentums als Quell und Kontinuum heutiger antisemitischer Strukturen so gut wie verneint.

Fasste Henryk M. Broder vor einigen Jahren das Verhältnis der Deutschen (und insbesondere ihrer intellektuellen Elite) zum Terrorismus noch mit der erbitterungsvollen Diagnose „Kein Krieg, nirgends“ zusammen, so ließe sich parallel dazu dem WDR die Haltung „Kein Antisemitismus, nirgends“ unterstellen. Vermutlich mit einer so lapidaren wie läppischen wie gleichsam wahrscheinlich leider zutreffenden Manière de penser: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Denn dieser Film ist ein Widerspruch zu jener beliebten Narrative, anhand derer sich das deutsche Bildungsbürgertum, dessen reines Abbild sich in den Strukturen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wiederfindet, die jüdische Geschichte und den Nahostkonflikt erklärt: Der Zionismus als abzulehnende kulturelle, ideologische und politische Bewegung, die den Palästinensern die Lebensgrundlage raube. Gaza als ein Freiluftgefängnis, wo entrechtete Menschen ein würdeloses Dasein fristen müssen. Israel als übergriffiger rassistischer Polizeistaat, allenfalls noch übertroffen vom Apartheidsregime Südafrikas.

Das alles ist freilich Quatsch, im deutschen öffentlichen Diskurs dagegen erschreckenderweise Common Sense. Dass «Auserwählt und Ausgegrenzt» auch diese Problemstellung sichtbar machen konnte, ist ein weiterer Verdienst der Dokumentation – und gleichsam von WDR und arte, auch wenn sie daran freilich nur widerwillig Anteil hatten.

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Es gibt 4 Kommentare zum Artikel
Nr27
23.06.2017 18:18 Uhr 1
Wenn ich beim Schreiner einen Tisch bestelle, er mir aber zwei Stühle liefert, dann schicke ich die selbstverständlich zurück. Nichts anderes haben WDR und Arte getan, alles andere sind unbelegbare Unterstellungen.



Und die letzten beiden Abschnitte dieser Kolumne offenbaren genau die Einseitigkeit, die dem WDR-Faktencheck wenige Zeilen zuvor vorgeworfen wurde ...



Besser hat das übrigens "Spiegel Online" hinbekommen:

http://www.spiegel.de/kultur/tv/umstrittene-antisemitismus-dokumentation-von-arte-und-wdr-mit-elan-ins-minenfeld-a-1152010.html
tommy.sträubchen
23.06.2017 21:38 Uhr 2
@ Nr27 ...der Vergleich ist einfach unpassend. Eine Dokumentation in Auftrag zu geben und bereits vorher wissen wollen was geliefert wird ist fragwürdig denn man weiß es ja nicht(so sollte es zumindest sein) wie die Menschen sind... Was sagen sie.. Wie ist ihre Meinung... Man taucht ein und lässt es laufen und berichtet...natürlich muss das nicht jeden gefallen aber hier liegt der Verdacht nahe,dass das Ergebnis Arte oder dem WDR einfach politisch nicht passte...und das hat ein komischen Beigeschmack.
Neo
23.06.2017 22:32 Uhr 3

Sagen wir mal so: ARTE und der WDR waren da leider sehr unsouverän. Die Doku ist aber auch wirklich nicht optimal, zumindest nicht für den leicht beeinflussbaren Teil der Gesellschaft. Manche Vergleiche sind da einfach unfassbar dämlich, die Musikuntermalung, mancher Unterton usw. Da will man halt nicht nur den Antisemitismus aufzeigen, sondern eine klare Richtung vorgeben. Da muss man sich eben dann zusammensetzen und sagen, dass man bei diesem und jenem Part ein besseres Beispiel nehmen muss oder es sich dann komplett spart - keine Ahnung, ob das der Fall war. Beide Seiten sagen ja was anderes. - Oder man sagt einfach, dass man das zeigen wird und dann einen Diskurs anstrengt, aber dann müsste der Zuschauer ja mitdenken und wie man am Artikelschreibling schon merkt, ist das gar nicht mal so einfach...



Was man gebraucht hätte, wäre eine richtige Dokumentation, ohne dümmliche und unsinnige Polemik, ohne schreckliche musikalische Untermalung, ohne dieses reißerische Voiceover, ohne bescheuerte Vergleiche. Klare Fakten.

Einfach dokumentieren.
Fernsehfohlen
24.06.2017 00:43 Uhr 4
Ich habe mir die Doku ebenfalls angeschaut und stimme Neo insofern zu, dass auch mir der Unterton nicht gefallen hat. Schon alleine der Einstieg in die Doku war in meinen Augen so reißerisch, dass ich wenig Lust hatte, sie mir weiter anzuschauen - und hätte das wahrscheinlich auch nicht gemacht, hätte sie nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Letztlich muss ich sagen, dass ich die Anmerkungen während des Films und den Online-Faktencheck auch eher als eine Mixtur aus Bagatellen, betreutem Schauen und unterschwelligem "den Filmemachern ans Bein bissen" empfunden habe, die Doku aber an vielen Stellen in eine ähnliche Richtung tendierte (was die Tendenziösität anbelangt).



Am besten hätte man den Film irgendwann spätabends bei Arte versendet, da wäre auch die Gefahr gering gewesen, allzu viele allzu leicht lenkbare Zuschauer anzutreffen. Dass der Zuschauer es gemeinhin nicht so mag, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender ihm vorzuschreiben gedenkt, was für ihn zumutbar ist und was nicht, sollte sich doch eigentlich rumgesprochen haben.



Und es war jetzt auch nicht die erste ÖR-Doku, die sehr tendenziös und reißerisch auf mich wirkte, von daher... ja.





Fohlen
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