Schwerpunkt

«O.J.: Made in America»: Wie eine Serie völlig verdient einen Oscar gewann

von

In deutschen Kinos lief «O.J.: Made in America» nie, nun zeigt arte die Oscar-prämierte Dokumentation erstmals in Deutschland. Was die Produktion formell und inhaltlich so einzigartig macht.

Facts zu «O.J.: Made in America»

  • Genre: Doku-Serie
  • Episoden: 5 (467 Minuten Laufzeit)
  • Regie: Ezra Edelman
  • Produzenten: Ezra Edelman, Caroline Waterlow, Tamara Rosenberg, Nina Krstic, u.w.
  • Musik: Gary Lionelli
  • Kamera: Nick Higgins
  • Schnitt: Bret Granato, Maya Mumma & Ben Sozanski
  • Produktionsfirmen: ESPN Films & Laylow Films
  • Weltpremiere: 22. Januar 2016 (Sundance Film Festival)
  • Auszeichnungen: 43, darunter Academy Award & Independent Spirit Award
Mit Glanz und Gloria bestreitet die Traumfabrik Hollywood jährlich die Verleihung der Academy Awards in Los Angeles, schließlich werden im Zuge der Preisverleihung Karrieren von Schauspielern, Regisseuren, Kameraleuten und weiteren Kreativen aus der bekanntesten Filmindustrie der Welt veredelt, während sich Filme mit einer oder mehr Auszeichnungen unvergesslich machen können. Doch die Großveranstaltung, die in jedem Jahr von beinahe unvergleichlichem Medienrummel begleitet wird, schafft mit ihren Auszeichnungen nicht nur Legenden. Bei dieser Tage 24 Kategorien fällt es selbst für große Fans schwer, sich alle Oscar-Gewinner zu merken. Es bestehen schließlich große Unterschiede zwischen der Relevanz der einzelnen Kategorien: Während die Preisträger in den Kurzfilm-Kategorien häufig schnell vergessen sind, bleibt der „beste Film“ wohl über Jahre präsent. Irgendwo in der Mitte dieser Skala ordnet sich der Preisträger in der Kategorie der „besten Dokumentation“ ein.

Nach wie vor spielen Unterhaltungsfilme bei den Academy Awards eine deutlich größere Rolle, schließlich will man im Rahmen der Oscars vor allem die Kunst und das Filmhandwerk ehren und ohnehin locken Unterhaltungsfilm deutlich mehr Zuschauer in die Kinos als Dokumentationen. Der dennoch begehrte Preis der „besten Dokumentation“ ging in diesem Jahr an «O.J.: Made in America», aber wohl nie hat der Gewinner in der Kategorie „beste Dokumentation“ in Deutschland weniger Aufmerksamkeit erhalten als in diesem Jahr. Während die meisten, bei den Oscars nominierten US-Produktionen zumindest spätestens in den Monaten nach der Oscar-Verleihung in den hiesigen Lichtspielhäusern erscheinen, lief «O.J.: Made in America» nämlich nie in deutschen Kinos. Dies hat nicht mit dem Inhalt und der Qualität der in den USA vielbesprochenen und hochwertigen Doku zu tun, sondern mit den formellen Eigenschaften der Produktion, die ab Freitag erstmals in Deutschland bei arte ausgestrahlt wird.

Wie eine Serie ihren Weg ins Oscar-Rennen fand


Warum «O.J.: Made in America», das am 7. Juli unter dem deutschen Titel «O.J. Simpson – Eine amerikanische Saga» zur besten Sendezeit Deutschland-Premiere feiert, eine Besonderheit darstellt, zeigt dessen kontrovers diskutierte und letztlich doch genehmigte Teilnahme am Oscar-Rennen. Eigentlich handelt es sich bei der Dokumentation nämlich um eine Doku-Serie. „Wie bitte? Wie konnte eine Serie überhaupt einen Academy Award gewinnen, wenn die Oscars doch explizit einen Filmpreis darstellen?“, werden an dieser Stelle einige Leser fragen. Die Antwort findet sich in den Regularien der Academy Awards, die angesichts weiter verschwimmender Grenzen durch den Aufstieg von Streaming-Anbietern wie Netflix und Amazon immer trickreicher ausgelegt werden.

Der Dokumentarfilmer Ezra Edelman produzierte «O.J.: Made in America» zusammen mit ESPN Films als fünfteilige Mini-Serie für ESPNs Dokusendestrecke „30 for 30“. So lief die Doku-Serie schließlich ab Mai 2016 im US-Fernsehen auf ABC und ESPN. Was die Produktion über die Vorgeschichte und die Folgen des Falls O.J. Simpson zu mehr machte als zu einer bloße TV-Doku und die Mini-Serie für einen Academy Award qualifizierte, war die besondere Art und Weise der Veröffentlichung. Seine Weltpremiere feierte die Produktion nämlich am 22. Januar 2016 auf dem Sundance Film Festival, danach folgte eine Kino-Verwertung und «O.J: Made in America» wurde in Kinos in New York City und Los Angeles gezeigt. Und hier liegt der Knackpunkt: Weil die Doku etwa zwei Wochen vor ihrer TV-Premiere auch in Kinos präsentiert wurde und das Oscar-Reglement eine Kino-Verwertung für eine Nominierung vorsieht, rutschte «O.J.: Made in America» doch noch ins Oscar-Rennen.

Die Oscars: Der Präzedenzfall «O.J.», andere Härtefälle und ihre Folgen


Als „untraditionell“ bezeichnete Edelman den Oscar-Sieg seiner Dokumentation selbst nach der diesjährigen Zeremonie und mit siebeinhalb Stunden Laufzeit mussten Kinogänger für die Sichtung der Produktion eine Menge Sitzfleisch mitbringen. Mit 467 Minuten Laufzeit hält «O.J.: Made in America» nun den Rekord für den längsten Oscar-prämierten Film aller Zeiten. Die Doku umging durch ihre ausufernde Länge eine weitere Hürde mithilfe einer Ausnahmeregelung: Eigentlich hätte die Doku-Serie während seiner Zeit im Kino vier Mal täglich gezeigt werden müssen, um für die Oscars zugelassen zu werden, was allein aufgrund der Laufzeit eine Herausforderung darstellte. Mit der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences (AMPAS) vereinbarte ESPN aber eine Sonderregelung, sodass zwei Vorführungen am Tag ausreichten.

So stellte «O.J.: Made in America» zumindest in der Doku-Kategorie einen Präzedenzfall dar, allerdings versuchen dieser Tage immer mehr aus Oscar-Sicht unkonventionelle Produktionen ihr Glück bei der Auslegung des Oscar-Reglements, darunter auch Netflix und Amazon, die im Filmgeschäft mittlerweile kräftig mitmischen, Filme mitproduzieren und durch Kino-Verwertungen ihrer Filme dafür sorgen wollen, dass ihre Filme bei den Academy Awards berücksichtigt werden. Mit «Beasts of No Nation» hatte Netflix im Vorjahr noch kein Glück, weil die für die Nominierungen verantwortliche AMPAS den Spielfilm mit Idris Elba partout nicht nominieren wollte, was viele Proteste seitens Filmkritikern und Beobachtern nach sich zog. Mit «The Salesman» und «Manchester by the Sea» wurden in diesem Jahr dafür gleich zwei von den Amazon Studios produzierte Filme ausgezeichnet und auch Netflix erhielt mit der Dokumentation «The White Helmets» eine der begehrten Trophäen.

Dass man in der Filmindustrie mit unkonventionellen Produktionen noch etwas fremdelt, zeigte sich aber erst beispielsweise im Rahmen der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes, in deren Rahmen eine Debatte um die Zulassung des Netflix-Films «Okja» entbrannte. Und auch die Academy reagierte auf den Oscar-Erfolg von «O.J.: Made in America» und schaffte in den Oscar-Regularien neue Hürden. Anfang April veröffentlichte die AMPAS neue Regularien für die Kategorie der „besten Dokumentation“: Ab dem kommenden Jahr würden mehrteilige Dokumentationen oder sogar Mini-Serien in besagter Kategorie nicht mehr berücksichtigt. Wäre «O.J.: Made in America» also erst im kommenden Jahr angetreten, hätten die neuen Regeln eine Nominierung verhindert. Dass die Doku dennoch die erste Serie kennzeichnet, die je einen Oscar gewann, ist aus inhaltlicher Sicht hochverdient.

«O.J.: Made in America»: Ein verdienter Oscar-Sieger


«O.J.: Made in America» blickt hochaufschlussreich auf Amerikas zwei größte Fixierungen: Ethnizität und Berühmtheit, die der Fall O.J. Simpson einst auf einzigartige Weise miteinander verband und so einen tiefen Blick in das Seelenleben der USA zuließ. Die Doku-Serie beginnt mit dem Start der hoffnungsvollen Football-Karriere O.J. Simpsons an der University of Southern California, Simpsons Weg zu Weltruhm in der National Football League, direkt in die Herzen aller US-Amerikaner - und seinem tiefen Fall, der die Dämonen eines der größten US-Sportler aller Zeiten offenlegte. So behandelt die Doku-Serie auch intensiv den berüchtigten Gerichtsprozess, in dem O.J. Simpson des Mordes an Ronald Lyle Goldman und seiner Frau Nicole Brown Simpson angeklagt wurde, seinen Freispruch und seine letztendliche Verurteilung 13 Jahre später.

Zuschauer, die annahmen, dass die 10-stündige FX-Fiction-Serie «The People v. O.J. Simpson» das Thema erschöpfend behandelt haben musste, werden mit der Doku-Serie eines Besseren belehrt. Besonders für deutsche Zuschauer bietet die ESPN-Produktion neue Einblicke zur Rolle O.J. Simpsons zu Zeiten der Rassen-Spannungen in Los Angeles, Simpsons Heimatstadt. Von den später 70ern bis in die frühen 90er hinein „besetzte“ die Polizei mehr oder weniger afroamerikanische Viertel, darunter auch jenes, in dem Simpson einst aufwuchs. In diesen Zeitraum fielen unter anderen die Tötung der jungen Afroamerikanerin Latasha Harlin durch eine Ladenbesitzerin, der Tod von Eula Love durch Polizeibeamte und die ungerechtfertigte und überharte Polizeigewalt an Rodney King, die die Unruhen in L.A. alle weiter befeuerten.

O.J., der durch seinen Ruhm als Sportler in hochprivilegierte Gesellschaftskreise aufgerückt war und dessen Stimme in diesem Konflikt großes Gewicht gehabt hätte, schwieg jedoch. Die Doku-Serie lässt also auch einen tiefen Blick auf eine Person zu, die zwischen ihren Identitäten wandelte. Zum einen entfloh Simpson durch seinen Erfolg als Sportler dem prekären Milieu und erreichte damit ein Ziel, nach dem so viele benachteiligte Afroamerikaner in seiner Heimat in Los Angeles vergeblich strebten, zum anderen wollte er mit diesen Wurzeln nach seinem Aufstieg nichts mehr zu tun haben. „Ich bin nicht schwarz. Ich bin O.J.“, soll Simpson einst im Gespräch mit dem Aktivisten Harry Edwards gesagt haben.

«O.J.: Made in America» versteht es, die verschiedenen Stationen in Simpsons Leben mit den gesellschaftlichen Vorgängen in den USA zur damaligen Zeit zuweilen meisterhaft zu verbinden und folgt dabei gleichzeitig größtenteils einer linearen Chronologie, die sich nicht nur intensiv mit der toxischen Beziehung zwischen Simpson und Nicole Brown Simpson auseinandersetzt, sondern auch mit den Eskapaden des Football-Rekordhalters nach dessen großer Karriere, die schonungslos offenlegen, wie tief Simpson letztlich abrutschte. Da Simpson so lange im Licht der Öffentlichkeit stand, konnte Edelman auf einen großen Material-Pool zurückgreifen, der von Aufnahmen aus Simpsons berühmtem Gerichtsprozess, bis zu Insider-Interviews und Aufnahmen von Überwachungskameras reicht.

Letztlich gewährt Edelman seinem Publikum eine breite Einsicht in eine unvergleiche Aufstieg-und-Fall-Saga im Stile griechischer Tragödien und schafft damit ein außerordentliches Stück investigativen Journalismus‘, das nicht nur Licht auf einen der größten US-Stars des 20. Jahrhunderts wirft, sondern seine Geschichte auch gekonnt in den Kontext der US-Zeitgeschichte setzt. So entfaltet die Doku zeitweise die Wirkung eines mitreißenden Thrillers und behandelt gleichzeitig differenziert Themen wie ethnische Herkunft, häusliche Gewalt und die US-amerikanische Obsession mit Ruhm und Berühmtheiten.

Arte zeigt «O.J.: Eine amerikanische Saga» ab Freitag, dem 7. Juli. Die ersten zwei Folgen der fünfteiligen Doku strahlt arte ab 20.15 Uhr aus, am Samstag folgen ebenfalls ab 20.15 Uhr die Teile drei bis fünf.

Kurz-URL: qmde.de/94202
Finde ich...
super
schade
94 %
6 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelFox Networks Group Germany kürt Director Brand Partnershipsnächster ArtikelKampfansage vom Donnergott: Thor rückt näher an «Fack Ju Göhte 3» heran
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner Mario Thunert

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung