Gar nicht für Sat.1 geplant
Ursprünglich war «Look Me in the Eye» gar nicht für Sat.1 gedacht, sondern für ProSieben. Doch während der Dreharbeiten hatte sich schnell gezeigt, dass Protagonisten und Atmosphäre eher für den Bällchensender sprechen.Frei nach dem Motto "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" sollen in der deutschen Adaption von «Look Me in the Eye» zwei Menschen, die sich aufgrund unterschiedlichster Ereignisse zerstritten haben, den entscheidenden Impuls für einen Neuanfang setzen - indem sie sich zehn Minuten lang wortlos gegenübersitzen und schlichtweg in die Augen schauen. Anschließend reflektieren sie diesen Moment zunächst wieder in getrennten Zimmern, bis es schließlich zur gemeinsamen Aussprache kommt. Zumindest, sofern beide Beteiligten dazu bereit sind.
Die größte Stärke: Echte Menschen statt humanoider Wesen
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Das Wohltuende an Sven, Christina, Nicole und ihren jeweiligen Gegenübern ist, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes "echte Menschen" sind. Soll heißen: Nicht nur von gescripteten Fälle haben die Produzenten definitiv die Finger gelassen, sondern auch von übercasteten TV-Halbprofis, die allzu sehr wissen, in welchem Moment sie auf welche Tränendrüse zu drücken haben - damit aber letztlich beim Publikum einen eher humanoiden als tatsächlich menschlichen Eindruck hinterlassen. Mit einem solchen Schlag Teilnehmer hat sich ganz aktuell Buschi bei seiner an sich schönen Show «The Wall» herumzuschlagen und ist seit nun mehr einer Woche darum bemüht, seinen Fans zu erklären, warum die Kandidaten eigentlich so fürchterlich entrückt von den Emotionen wirken, die der Normalo vor den Empfangsgeräten erwartet. Dass es sich hierbei viel mehr um einen Problemfall des schlechten bzw. übereifrigen Castings als um Fake oder Scripting handelt, ist dabei offensichtlich einem Teil des Publikums gar nicht bewusst. Es merkt schlichtweg, dass sich die Akteure "unecht" verhalten - und das ist nicht gut für eine Sendung, die von Emotionalität und Empathie lebt.
«Der Augenblick» agiert da anders - und zeigt eben Menschen wie Sven, den die Emotionen schon vor dem eigentlichen Experiment derart übermannen, dass er sich im Vorzimmer einfach mal spontan von seinem Platz erhebt, weil er "nicht mehr sitzenbleiben" kann. Oder seine Mutter Sonja, die schlichtweg nicht in Worte fassen kann, wen oder was sie erwartet und dies auch genau so artikuliert, statt minutenlang schwülstiges, substanzloses Zeug zu quasseln. Oder einen Mann, der nicht die höchste Kompetenzstufe der Eloquenz erreicht und Vertrauen bzw. Verbundenheit vornehmlich daran misst, wie häufig und innig er mit seiner Freundin kuscheln kann. Das sind so kleine Parameter für die "Realness" der Akteure, die ihren Höhepunkt immer dann erreicht, wenn sie in den spartanisch eingerichteten Raum gehen und einer wichtigen Person ihres Lebens schweigend gegenübersitzen.
Die kritischen Punkte: Zeitmangel, hölzerne Expertin, Werbepausen-Fail
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Etwas hölzern wirkt überdies die Psychoanalytikerin Dr. Sandra Köhldorfer (Foto), die für die psychologische Fundierung des Experiments Sorge tragen und in Worte fassen soll, warum sich die Menschen in bestimmten Situationen verhalten haben, wie sie sich verhalten haben. Die inhaltliche Bandbreite ihrer Aussagen reicht von Banalitäten der Marke "das war ein mutiger Schritt in Richtung Versöhnung" bis hin zu durchaus interessanten Aspekten der Forschung. Dass ihre Ausführungen meist wahlweise wie eine automatische Aufsagefunktion des Teleprompters oder wie eine Vorlesung in der Uni wirken, ist aber ein wenig unglücklich - vor allem in einem sonst so erfrischend natürlich daherkommenden Format.
Und wer an diesem Sonntagvorabend auch immer für die Platzierung der Werbepausen tätig war, sollte sich für eine der kommenden Folgen dringend um einen Platz auf den Stuhl bewerben und die Produzenten von Red Seven Entertainment um Verzeihung bitten. Das Publikum mitten aus dem Moment zu reißen, in dem sich das junge Paar direkt in die Augen schaut, ist eine schmerzhafte Blutgrätsche gegen die Fernsehmacher und hat mit einer sanften, zuschauerorientierten Werbe-Platzierung in etwa so viel zu tun wie das Verhalten der Hamburger Krawallmacher der letzten Tage mit konstruktiver Kritik gegen die Auswüchse des Kapitalismus.
Fazit: Ein schönes Format - aber auch ein Erfolg?
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Das kann «Verzeihen ohne Worte» nicht anbieten und muss deshalb hoffen, dass sich die Emotionalität der Teilnehmer bis zuhause in die Wohnzimmer transportieren lässt. Kann klappen, kann schiefgehen - aus Sicht des TV-Idealisten und Kritikers aber in jedem Fall schön, dass Sat.1 überhaupt den Mut hat, das auszuprobieren. Hilfreich ist da sicher, dass RTL parallel dazu mit «Spektakulär» ein spektakulär unspektakuläres Konkurrenzprogramm anbietet, das nach den Werten der Vorwoche höchstens spektakulär zu floppen droht.
Sat.1 zeigt weitere Folgen von «Der Augenblick» auch in den kommenden Wochen immer sonntags um 18:55 Uhr.
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