Hingeschaut

«Der Augenblick»: Sat.1 entdeckt die Magie der echten Emotion

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Ruhe statt Vollzeitgeplapper, echte Menschen statt übercasteter Kitschprofis und die Schönheit des realen TV-Moments: Der Bällchensender wandelte am Sonntagvorabend auf den Spuren von VOX. Heraus kam dabei eine sehr schöne Sendung, die ihren Protagonisten gerne noch etwas mehr Zeit hätte einräumen dürfen.

Gar nicht für Sat.1 geplant

Ursprünglich war «Look Me in the Eye» gar nicht für Sat.1 gedacht, sondern für ProSieben. Doch während der Dreharbeiten hatte sich schnell gezeigt, dass Protagonisten und Atmosphäre eher für den Bällchensender sprechen.
Die Sender VOX und Sat.1 verbindet derzeit relativ wenig: Die beiden Privatsender gehören unterschiedlichen Sendergruppen an und während der eine in den vergangenen Jahren hervorragende Arbeit geleistet hat, sowohl in der Breite als auch in der Spitze frischen Wind durch den Fernsehmarkt wehen zu lassen, scheint es beim anderen oftmals, als habe man sich mit seinem kontinuierlichen Abwärtstrend geradezu abgefunden. Doch die neueste Vorabendsendung «Der Augenblick - Verzeihen ohne Worte» ist dermaßen geschmackvoll, herzlich und hinsichtlich der Zurücknahme inszenatorischer Stilmittel zur künstlichen Überzeichnung von Emotionen konsequent, dass man fast schon unweigerlich an die Kollegen denken muss, um im Privatfernsehen geistige Vorbilder zu finden. Doch Vorsicht: Nicht immer wurde das in jüngster Vergangenheit auch belohnt.

Frei nach dem Motto "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" sollen in der deutschen Adaption von «Look Me in the Eye» zwei Menschen, die sich aufgrund unterschiedlichster Ereignisse zerstritten haben, den entscheidenden Impuls für einen Neuanfang setzen - indem sie sich zehn Minuten lang wortlos gegenübersitzen und schlichtweg in die Augen schauen. Anschließend reflektieren sie diesen Moment zunächst wieder in getrennten Zimmern, bis es schließlich zur gemeinsamen Aussprache kommt. Zumindest, sofern beide Beteiligten dazu bereit sind.


Die größte Stärke: Echte Menschen statt humanoider Wesen


Und dass die möglichen Gründe für ein Zerwürfnis vielfältig sein können, zeigt bereits die Auftaktfolge mit ihren insgesamt drei Geschichten: Da ist etwa Sven, der nach einem Streit den Kontakt zu seiner Mutter (Foto) abgebrochen hat, da diese ihn in Beisein seines Sohnes mit einer Äußerung sehr verletzt hat - wie sich später herausstellt, wusste Mutter Sonja aber gar nicht um die tiefe Kränkung ihres Nachwuchses. Die 22-jährige Christina hat mit einer unüberlegten Affäre ihre große Liebe verloren und hofft nun auf einen Neuanfang. Und die 35-jährige Nicole belastet es sehr, dass sie ihrer Schwester Melanie verbal wie physisch Schmerhaftes zugefügt hat und möchte sich dafür schlichtweg entschuldigen - und zugleich dafür bedanken, dass Melanie trotz der Fehler schon jetzt wieder für sie da ist, wo sie einige Schicksalsschläge zu verkraften hat.

Das Wohltuende an Sven, Christina, Nicole und ihren jeweiligen Gegenübern ist, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes "echte Menschen" sind. Soll heißen: Nicht nur von gescripteten Fälle haben die Produzenten definitiv die Finger gelassen, sondern auch von übercasteten TV-Halbprofis, die allzu sehr wissen, in welchem Moment sie auf welche Tränendrüse zu drücken haben - damit aber letztlich beim Publikum einen eher humanoiden als tatsächlich menschlichen Eindruck hinterlassen. Mit einem solchen Schlag Teilnehmer hat sich ganz aktuell Buschi bei seiner an sich schönen Show «The Wall» herumzuschlagen und ist seit nun mehr einer Woche darum bemüht, seinen Fans zu erklären, warum die Kandidaten eigentlich so fürchterlich entrückt von den Emotionen wirken, die der Normalo vor den Empfangsgeräten erwartet. Dass es sich hierbei viel mehr um einen Problemfall des schlechten bzw. übereifrigen Castings als um Fake oder Scripting handelt, ist dabei offensichtlich einem Teil des Publikums gar nicht bewusst. Es merkt schlichtweg, dass sich die Akteure "unecht" verhalten - und das ist nicht gut für eine Sendung, die von Emotionalität und Empathie lebt.

«Der Augenblick» agiert da anders - und zeigt eben Menschen wie Sven, den die Emotionen schon vor dem eigentlichen Experiment derart übermannen, dass er sich im Vorzimmer einfach mal spontan von seinem Platz erhebt, weil er "nicht mehr sitzenbleiben" kann. Oder seine Mutter Sonja, die schlichtweg nicht in Worte fassen kann, wen oder was sie erwartet und dies auch genau so artikuliert, statt minutenlang schwülstiges, substanzloses Zeug zu quasseln. Oder einen Mann, der nicht die höchste Kompetenzstufe der Eloquenz erreicht und Vertrauen bzw. Verbundenheit vornehmlich daran misst, wie häufig und innig er mit seiner Freundin kuscheln kann. Das sind so kleine Parameter für die "Realness" der Akteure, die ihren Höhepunkt immer dann erreicht, wenn sie in den spartanisch eingerichteten Raum gehen und einer wichtigen Person ihres Lebens schweigend gegenübersitzen.


Die kritischen Punkte: Zeitmangel, hölzerne Expertin, Werbepausen-Fail


Angesichts dessen ist es fast schon schade, dass sich die Macher nicht getraut haben, von dieser zehnminütigen Schweigephase alles oder zumindest einen Großteil zu zeigen. Nur eine bis drei Minuten gönnt man der völligen Ruhe und der damit verbundenen Mimik und Gestik der Kandidaten, obwohl hier mitunter tatsächlich mehr ausgedrückt wird als durch exzessives Gelaber. Auch die Impressionen von der abschließenden Aussprache fallen recht kurz aus, sodass sich einige zwischenmenschliche Dynamiken für den Zuschauer kaum nachvollziehen lassen. Das dürfte einerseits mit dem nachvollziehbaren Gedanken der Konsumentenorientierung einhergehen, da der Sofaheld wohl kaum zehn Minuten lang konzentriert zwei Menschen dabei zusehen dürfte, wie sie sich schweigend gegenübersitzen. Andererseits wirkt die Auftaktfolge aber gerade gegen Ende hin dann doch leider manchmal etwas gehetzt, was die Frage aufwirft, ob man sich nicht lieber zwei statt gleich dreier Duos pro Folge hätte widmen sollen - schon alleine der Tiefe der Empathie zuliebe, die man für die Protagonisten aufbringt.

Etwas hölzern wirkt überdies die Psychoanalytikerin Dr. Sandra Köhldorfer (Foto), die für die psychologische Fundierung des Experiments Sorge tragen und in Worte fassen soll, warum sich die Menschen in bestimmten Situationen verhalten haben, wie sie sich verhalten haben. Die inhaltliche Bandbreite ihrer Aussagen reicht von Banalitäten der Marke "das war ein mutiger Schritt in Richtung Versöhnung" bis hin zu durchaus interessanten Aspekten der Forschung. Dass ihre Ausführungen meist wahlweise wie eine automatische Aufsagefunktion des Teleprompters oder wie eine Vorlesung in der Uni wirken, ist aber ein wenig unglücklich - vor allem in einem sonst so erfrischend natürlich daherkommenden Format.

Und wer an diesem Sonntagvorabend auch immer für die Platzierung der Werbepausen tätig war, sollte sich für eine der kommenden Folgen dringend um einen Platz auf den Stuhl bewerben und die Produzenten von Red Seven Entertainment um Verzeihung bitten. Das Publikum mitten aus dem Moment zu reißen, in dem sich das junge Paar direkt in die Augen schaut, ist eine schmerzhafte Blutgrätsche gegen die Fernsehmacher und hat mit einer sanften, zuschauerorientierten Werbe-Platzierung in etwa so viel zu tun wie das Verhalten der Hamburger Krawallmacher der letzten Tage mit konstruktiver Kritik gegen die Auswüchse des Kapitalismus.

Wie hat euch der Auftakt von «Der Augenblick» gefallen?
Sehr gut, ich freue mich schon auf die weiteren Folgen.
20,9%
War in Ordnung, da kann man zumindest mal reinschauen.
10,4%
Ganz mies, das muss ich nicht noch einmal sehen.
16,4%
Habe es (noch) nicht gesehen.
52,2%


Fazit: Ein schönes Format - aber auch ein Erfolg?


Unterm Strich soll das den positiven Gesamteindruck jedoch nicht schmälern, den «Der Augenblick» an diesem Sonntag zweifelsohne hinterlassen hat. Eine Erfolgsgarantie lässt sich aber natürlich trotzdem nicht aussprechen - und das nicht nur aus dem offensichtlichen Grund, dass es derartige Garantien im Fernsehgeschäft ohnehin nicht gibt. Denn wenngleich VOX zurecht für seine schönen, nicht selten auch mutigen Formate gelobt wird, ist aus Quotensicht nicht immer alles Gold, was so wunderbar nach Authentizität glänzt. Der bitterste Fall war hier zuletzt die sechsteilige Reihe «The Story of My Life», die ebenfalls mit einem sehr ruhigen Grundton aufwartete, den Autor dieses Artikels - um einmal kurz persönlich zu werden - emotional ähnlich stark mitnahm, doch damit die breite Masse schlichtweg nicht erreichte. Zu viele Menschen empfanden das Gesehene als zu langweilig und subjektiv bedeutungslos. Gegenbeispiele sind etwa «Sing meinen Song» und mit Abstrichen «Meylensteine» sowie «One Night Song», wobei hier auch die Musik eine wichtige Rolle spielt.

Das kann «Verzeihen ohne Worte» nicht anbieten und muss deshalb hoffen, dass sich die Emotionalität der Teilnehmer bis zuhause in die Wohnzimmer transportieren lässt. Kann klappen, kann schiefgehen - aus Sicht des TV-Idealisten und Kritikers aber in jedem Fall schön, dass Sat.1 überhaupt den Mut hat, das auszuprobieren. Hilfreich ist da sicher, dass RTL parallel dazu mit «Spektakulär» ein spektakulär unspektakuläres Konkurrenzprogramm anbietet, das nach den Werten der Vorwoche höchstens spektakulär zu floppen droht.

Sat.1 zeigt weitere Folgen von «Der Augenblick» auch in den kommenden Wochen immer sonntags um 18:55 Uhr.

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