Hingeschaut

«Jetzt oder nie»: Sag niemals nie zu nie

von   |  2 Kommentare

Als spannendes «100-Tage-Experiment» angekündigt, hielt sich der Spannungsfaktor der neuen Reality-Doku in Sat.1 in der Umsetzung doch in sehr eng gefassten Grenzen. Immerhin eine Protagonistin hat die Auftaktfolge aber auftreiben können, die das Herz des Zuschauers inmitten vieler überzeichneter Gefühlsduseleien tatsächlich erwärmen konnte.

Fakten zum Sat.1-Mittwoch 2017

  • bislang fast ausschließlich Ranking-Shows ausgestrahlt («15 Dinge», «21 Schlagzeilen» und zuletzt «Wir sind Deutschland»
  • große Ausnahme im Ranking-Einerlei: vierwöchige «Das große Backen»-Promispecial-Strecke im April und Mai, allerdings auch nur mäßig erfolgreich
  • noch kein einziger zweistelliger Marktanteil im ganzen Kalenderjahr erreicht (Highlights: 9,9 Prozent für «Das große Backen»-Finale, einmal 9,7 Prozent für «21 Schlagzeilen»)
Ach, Sat.1 sendet auch mittwochabends? Angesichts der Tatsache, dass der Sender seit Monaten schon ein in letzter Konsequenz irrelevantes Ranking-Format nach dem anderen rausfeuert und damit noch nicht einmal wirklich Quote generiert (siehe Infobox), darf man sich diese augenzwinkernde Frage durchaus einmal stellen. An einem Abend also, an dem Promispecials von «Das große Backen» bislang schon so etwas wie das Jahreshighlight waren, klingt der Neustart «Jetzt oder nie - Das 100-Tage-Experiment» bereits im Vorfeld interessant, mag es auch nur ein "könnte was werden"-Interessant sein. Nun lief die Auftaktfolge der Sendung und zumindest inhaltlich lässt sich ganz trocken sagen: Ne, wurde nichts. Die Mixtur aus Reality-Experiment, Doku- und Helpsoap klammerte sich zu sehr an gewohnten Genre-Konventionen fest und drohte in den ersten Minuten sogar daran zu scheitern, interessante Persönlichkeiten ins Zentrum zu rücken. Die kleine Elli sorgte dann allerdings dafür, das immer mal wieder ein schüchterner Sonnenstrahl die restliche Tristesse aufhellte.

Konzeptionell ist das von RedSeven Entertainment produzierte Format recht simpel erklärt: Menschen werden mit der Kamera und professioneller Hilfe dabei begleitet, wie sie sich innerhalb von 100 Tagen einen großen Lebenstraum zu erfüllen versuchen, der in weiter Ferne scheint. Im Falle der ersten Folge werden zwei Frauen begleitet, die beide mit Herausforderungen unterschiedlichster Couleur umzugehen haben: Die 42-jährige Caroline hat seit ihrer Kindheit starke Flugangst, möchte aber unbedingt einmal nach Singapur fliegen. Die 26-jährige Elli leidet seit ihrer Geburt unter dem Down-Syndrom, will aber unbedingt wie ihre große Schwester Reiten lernen und einmal in ihrem Leben an einem Reitturnier teilnehmen.


Zwei Storylines, die unterschiedlicher kaum wirken könnten


Ein wenig stärker im Zentrum der Episode steht dabei Caroline, die rasch einen Diplom-Psychologen an die Seite gestellt bekommt und fortan diverse therapeutische Maßnahmen über sich ergehen lassen muss. Ob es dabei um das bloße Anschauen von Flugzeugfotos und kurzen Videos geht oder die beiden gemeinsam zum Flughafen fahren sollen - für Drama ist gesorgt. Das liegt zum Einen an der reichlich überzogenen Darstellung von Seiten der Produzenten, die mal wieder die altbekannte Klaviatur des überzeichneten Reality-Fernsehens runterrattern und mit schnellen Schnitten, Großaufnahmen schockierter Gesichter und dem großen Hitmix der dramatischsten Chartsong-Passagen der jüngeren Vergangenheit dem Rezipienten geradezu mit dem Vorschlaghammer in die Rübe donnern, dass es eine Situation gibt. Und noch eine. Und noch eine. Und das Experiment eigentlich rund um die Uhr kurz davor ist, zu scheitern - was, kleiner "Spoiler" am Rande, ebenfalls in altbekannter Manier natürlich nicht passiert.

Doch Schnitte, Musik und der ganze Firlefanz reichen offensichtlich noch nicht, es bedarf auch bedeutungsschwangerer Zitate innerhalb der Exposition. Das übernimmt zum Teil der Off-Sprecher, der in Carolines Fahrt zum Flughafen nicht bloß eine "kaum zu ertragene Vorstellung" hineininterpretiert, sondern auch einen "Horror-Trip" darin sieht - erstaunlich, dass man sich in diesem Moment zumindest eine Referenz auf den legendären «Psycho»-Soundtrack verkneifen konnte. Aber auch der Diplom-Psychologe vermengt Berufsethos und seinen inneren Hitchcock und kündigt gleich nach dem ersten Treffen an: "Ich möchte, dass es Caroline in den nächsten 100 Tagen gut geht - aber das wird nicht gehen, ohne dass sie Angst bekommt." Quid pro quo, Caroline, quid pro quo.

Weitaus angenehmer ist da die Geschichte um die kleine Elli, die weitaus weniger stark künstlich aufgebauscht daherkommt, dafür aber eine umso herzigere Protagonistin zu bieten hat. Der jungen Frau dabei zuzuschauen, wie sie sich zunehmend an ihr Pferd Balu herantastet, berührt tatsächlich. Diese ehrliche emotionale Verbundenheit bekommt noch nicht einmal der Off-Sprecher gekappt, der mindestens zweimal quasi wortgleich zum Besten gibt, dass Elli und ihre Mitstreiter (unter anderem auch eine kaum minder sympathische ältere Reitlehrerin) "noch nicht ahnen, dass bald dicke Tränen fließen werden". Man muss den Machern aber auch zugestehen, dass sie hier deutlich mehr einfach mal authentisch laufen lassen, statt künstlich in den dramaturgischen Olymp zu quatschen - vielleicht auch, weil hier das abgefilmte Material schlichtweg besser schon für sich funktioniert.

Wie hat euch der Auftakt von «Jetzt oder nie» gefallen?
Sehr gut, ich freue mich schon auf die weiteren Folgen.
23,8%
War in Ordnung, da kann man zumindest mal reinschauen.
16,7%
Ganz mies, das muss ich nicht noch einmal sehen.
21,4%
Habe es (noch) nicht gesehen.
38,1%


Einfältig, gewöhnlich, verzichtbar


Von Elli und ihrer Crew einmal abgesehen gibt es aber wenig, das man diesem Format zugute halten könnte. Die 135 Minuten umfassende Brutto-Sendezeit schleppt sich über weite Strecken eher dahin, die Geschichte um Caroline ist in ihrer gesamten Struktur schlichtweg viel zu affektiert und vorhersehbar, dass man nicht ahnen würde, worauf sie hinausläuft und sich für sie begeistern könnte. Es gelingt nicht wirklich, eine Spannungskurve aufzubauen, die einen auf das große Finale der 100 Tage hinfiebern lässt, die Versuche in diese Richtung sind zu bemüht, die Frau in letzter Konsequenz vielleicht auch einfach nicht sympathisch oder interessant genug - und das Narrativ ja eben erst recht nicht.

Was bleibt, ist eine unterm Strich völlig gewöhnliche Dokusoap, die dringend mehr Ellis braucht, um über ihr qualitatives Mittelmaß hinwegzutäuschen. Welche der beiden Hauptpersonen der ersten Folge nun repräsentativer für die Staffel ist, ist nach der ersten Ausgabe noch nicht wirklich vorherzusehen - dass die Sendung ansonsten nicht viel zu bieten hat, um für sie eine Konsumempfehlung aussprechen zu können, deutet sich aber umso deutlicher an. Wohl auch deshalb nimmt man Ellis Reitambitionen mit in die zweite Folge - man hat ja sonst nicht wirklich was. Insofern kann man dem potenziellen Interessenten nur raten, den Titel «Jetzt oder nie» als Interrogativsatz aufzufassen und letztgenannte Option auch in Betracht zu ziehen. Gerade dann, wenn man noch nicht einmal mit den Protagonisten warm werden sollte.

Sat.1 möchte auch in den kommenden Wochen weitere Folgen des Formats am Mittwochabend um 20:15 Uhr ausstrahlen.

Kurz-URL: qmde.de/94554
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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Familie Tschiep
20.07.2017 14:09 Uhr 1
Mich hat das nicht so interessiert. Vielleicht wäre es als Dokumentarfilm von einem Dokumentarfilmer interessant, der sich Zeit für seine Geschichten nimmt.
Kingsdale
20.07.2017 15:11 Uhr 2
Nee, habe und werde es nicht schauen, weil es genauso aufregend erscheint, wie der Farbe beim trocknen zu zuschauen.

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