Filmfacts «Immer noch eine unbequeme Wahrheit»
- Regie: Bonni Cohen, Jon Shenk
- Produktion: Jeff Skoll, Richard Berge, Diane Weyermann
- Musik: Jeff Beal
- Kamera: Jon Shenk
- Schnitt: Don Bernier, Colin Nusbaum
- Laufzeit: 99 Minuten
- FSK: ab 6 Jahren
Einer meiner Kollegen kam allerdings aus einem anderen Grund kopfschüttelnd aus dem Saal. "Also, ich hätte ja schon gern mehr über den Klimawandel erfahren, statt andauernd unter die Nase gerieben zu bekommen, dass Al Gore ein so viel besserer Präsident wäre", meinte er. Ich kann seinen Standpunkt bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Das Regie-Duo Bonni Cohen & Jon Shenk ist unbestreitbar von Gore fasziniert – das zeigt sich in «Immer noch eine unbequeme Wahrheit» unverblümter als in «Eine unbequeme Wahrheit», der Vorläufer-Dokumentation aus dem Jahr 2006. Diese war praktisch eine von Al Gore abgehaltene Umweltfakten-Präsentation, die das Dokumentarteam mit zusätzlichem Bildmaterial und einigen tieferen Einblicken in die Fakten hinter den angeschnittenen Zahlen erweitert hat.
«Immer noch eine unbequeme Wahrheit» wiederholt diesen Aufhänger – doch dieses Mal ist die Präsentation ein schwaches, zwischendurch in Vergessenheit geratendes Gerüst. Das Hauptmaterial verfolgt Al Gore und seine Tätigkeit als Aktivist, Vermittler, Experte … Und als Motivationsredner für alle, die sich dem Kampf für den Erhalt einer menschenfreundlichen Umwelt verschrieben haben, in den jüngsten Jahren durch eine ideologische Rückschrittlichkeit in einigen politischen Lagern aber an den Rand der Verzweiflung geraten sind.
- © Paramount Pictures
Dreht man seinen inneren Zynismus also auf die höchste Stufe, lässt sich dieser Dokumentation zwischendurch unterstellen, Gore-Personenkult zu betreiben. Den Vorwurf, prophylaktisch Gore-Wahlkampfwerbung zu betreiben, weisen Cohen und Shenk aber bereits im Film selbst von sich – zeigen sie doch unter anderem ein Pressegespräch des Ex-Präsidentschaftskandidaten, der sich darin als früherer Politiker in Abstinenz bezeichnet und festhält, kein Interesse an einem Rückfall zu haben.
Er begnügt sich mit seiner Rolle im Versuch, eine Klimavollkatastrophe zu vermeiden – was selbst schon eine sehr politische Tätigkeit ist, wie «Immer noch eine unbequeme Wahrheit» illustriert. Etwa, wenn Gore bei Gesprächen mit der indischen Regierung vermittelt, die sich keinen Regularien des Westens unterwerfen will. Indiens Politiker bezeichnen es in einer hier verewigten Verhandlung als ungerecht, sich bei der viel späteren Industrialisierung ihres Landes rasch selber zügeln zu müssen, nachdem die führenden Industrienationen jahrzehntelang Dreck in die Luft gepustet haben. Ein Argument, das zum Nachdenken anregt und dennoch zum Wohle aller entkräftet werden muss – wie Al Gore schrittweise einer Lösung zuarbeitet, übertrifft den Plot zahlreicher Politthriller. Selbst wenn es ganz nebenher noch einmal vor Augen führt, wie wichtig Redegewandtheit und diplomatisches Geschick auf dem Parkett sind, das das Weltwohl entscheidet. Und schon kommt die Erinnerung hoch, wie wenig gewisse, polternde Politiker diese Künste beherrschen …
Zweifelsohne: «Immer noch eine unbequeme Wahrheit» ist viel eher ein Film über Lobbyarbeit als über Klimazahlen. Es ist eine Doku über die Feinheiten von Verhandlungen und Aufklärungsarbeit. Und vom Händeschütteln und Klinkenputzen, das nötig ist, um das Umdenken und den Fortschritt voranzutreiben. Aber weshalb sollte dies dieser Dokumentation vorgeworfen werden? Der vom Menschen zu seinem eigenen Nachteil beschleunigte Klimawandel ist real, da können ignorante Pöbler noch so sehr die Arme verschränken, "Nein!" brüllen und ihr Verleugnen wissenschaftlicher Fakten als von der Meinungsfreiheit beschützten Glauben darstellen. «Eine unbequeme Wahrheit» trieb bereits Aufklärungsarbeit und lieferte die entsprechenden Statistiken – die Fortsetzung kann bloß im kleinen Rahmen daran anknüpfen, bevor sie sich wiederholt. Also reißt Al Gore im Film ein paar Updates an – sowohl bezüglich dessen, wie schlecht die Lage in der Zwischenzeit wurde (unter anderem trat eine 2006 als zu dramatisch kritisierte Hochwasserprognose ein), aber auch bezüglich der Fortschritte in Sachen erneuerbare Energien.
«Immer noch eine unbequeme Wahrheit» beleuchtet, weshalb wir trotz des immer unberechenbarer werdenden Wetters, der zunehmend besorgniserregenden Naturkatastrophen und der voraneilenden Entwicklungen in Sachen grüner Technologie nicht dort sind, wo wir längst sein könnten. Der Film reißt Anekdoten politischer Eitelkeiten an, die Entwicklungen ausbremsen. Er zeigt Dilemmata, bei denen Wirtschaftsinteressen auf dem ersten Blick den ökologischen Überlegungen im Weg stehen. Und er zeigt viel, viel von der Scheuklappenmentalität, die vor allem das rechte Politspektrum an den Tag legt – sowie Leute wie Donald Trump, die einst nur in wirren Fieberträumen mit Politik in Verbindung gebracht wurden.
Der cholerische, egomanische Politchauvi zieht sich wie ein Krebsgeschwür durch den Film. Er und seine Gleichgesinnten tauchen immer wieder am Rand auf und streuen mit ihren kurzsichtigen Temperamentsanflügen dem Fortschritt Sand ins Getriebe. Sie werfen in Szenen, die in einer nunmehr fern wirkenden Vergangenheit gedreht wurden, einen unheilvollen Schatten, der ins aufs Heute deutet. Ja, das Zukunftsdenken bräuchte nicht solch einen pathetischen Abspannsong, wie den, auf dem «Immer noch eine unbequeme Wahrheit» endet. Aber lieber zwölf solcher Songs als noch einen Tumor wie Donald Trump an der Macht.
«Immer noch eine unbequeme Wahrheit» ist ab dem 7. September 2017 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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