Serientäter

«Twin Peaks» Staffel 3: Lynch, du verdammtes Genie!

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Nach dem Ende der phänomenalen dritten Staffel versucht unser Redakteur in Worte zu fassen, warum ihn «Twin Peaks» nun mehr fasziniert als je zuvor. Ein spoilerfreier Erfahrungsbericht eines Serien-Nerds, den eigentlich nichts mehr schocken konnte.

Cast & Crew «Twin Peaks» Season 3

  • Erfinder und Autoren: David Lynch, Mark Frost
  • Regie: David Lynch
  • Darsteller: Kyle MacLachlan, Mädchen Amick, Jennifer Jason Leigh, Naomi Watts u.a.
  • Ausf. Produzenten: Frost, Lynch, Sabrina S. Sutherland
  • Musik: Angelo Badalamenti
  • Produktion: Rancho Rosa Partnership Production, Lynch/Frost Production für Showtime
  • Folgen: 18 (je 45-60 Min.)
“It makes me uncomfortable to talk about meanings and things. It’s better not to know so much about what things mean. Because the meaning, it’s a very personal thing, and the meaning for me is different than the meaning for somebody else.”
David Lynch

Die nächsten Zeilen werden ziemlich persönlich. Normale Maßstäbe kann man an David Lynchs Werke ohnehin nicht anlegen, also versuche ich es erst gar nicht. Ich möchte darüber schreiben, wie die dritte Staffel seiner Serie «Twin Peaks» meine Sicht auf das Serienmedium verändert hat. Und warum «Twin Peaks» für mich vielleicht die großartigste Serienerfahrung ist, die ich je gemacht habe.

Seit mehr als zehn Jahren schreibe ich über das Fernsehgeschäft, damit auch ähnlich lange über Serien. In diese Zeit fällt der kometenhafte Aufstieg der sogenannten Qualitätsserien; das Medium etabliert sich in der Jugend- und Popkultur. Wer mitreden will, schaut «Game of Thrones», veranstaltet Binge-Marathons auf Netflix oder liest die aktuellen Reviews. Gerade bei jüngeren Generationen gehört sowas dazu.

2007 war dies noch ganz anders. Ungefähr zu dieser Zeit muss ich «Twin Peaks» entdeckt haben. Wenn man sich mit Serien beschäftigt, stößt man irgendwann zwangsläufig auf diesen Namen. Und hört: «Twin Peaks» soll der Pionier dieser modernen Qualitätsserien sein, ein geradezu revolutionärer Vorläufer, der großen Einfluss hatte auf die heutigen Produzenten. Zwei wesentliche Merkmale von David Lynchs Serie: Sie erzählte horizontal, also über viele Folgen hinweg. Und sie vermischte Genres, war damit nicht in Schubladen einzuordnen. «Twin Peaks» war keine Mysteryserie, kein Thriller, kein Coming-of-Age-Drama, keine Soap, keine Whodunit-Geschichte. Sondern alles zusammen. Das war im Jahr 1990 revolutionär, als die ersten Folgen über den Bildschirm flimmerten.

Ich war von dem Format begeistert, auch wegen der großartigen Inszenierung David Lynchs und wegen der Schauspieler. Langsam wird der Zuschauer über eine relativ gewöhnliche und nachvollziehbare Geschichte – Wer ermordete Laura Palmer? – in den komplizierten Mythos Twin Peaks hineingezogen, mit all seinen bösen Kräften, dem Kleinstadt-Horror, mit alternativen Welten und vielen Fragen, die offen bleiben.

25 Jahre lang wurden diese Fragen nicht beantwortet. Aber David Lynch war mit «Twin Peaks» noch nicht fertig. Damit schloss sich auch ein Kreis: Seine Serie ist mitverantwortlich dafür, dass heute eine solche Landschaft von Qualitätsserien existiert und dass wir komplexe Geschichten binge-watchen. Die Sehgewohnheiten haben sich geändert. Genau diese Bedingungen waren nötig, damit «Twin Peaks» fortgesetzt werden kann. Der Chef vom Sender Showtime, der die dritte Staffel in Auftrag gab, bestätigt dies: Nur rund zehn Prozent der Zuschauer sahen «Twin Peaks» in der regulären Ausstrahlung, alle anderen erst im Nachhinein über Aufnahmen oder On-Demand-Dienste.

Trotzdem habe ich diese dritte Staffel nicht an einem Stück geschaut. Stattdessen habe ich jede Woche eingeschaltet, einen ganzen Sommer lang am Montagabend. Seit vielen Jahren habe ich eine Serie so nicht mehr konsumiert. Aber ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht und konnte nicht warten. Mit einer ausgiebigen binge-Erfahrung von anderen Formaten kann ich nun (wieder) sagen: Diese klassische Art, Serien zu schauen, verändert auch den Blick auf die Inhalte. Wenn ich eine Serie wöchentlich über einen längeren Zeitraum schaue, reflektiere ich mehr, mache mir mehr Gedanken, verarbeite Ereignisse. Gerade bei «Twin Peaks» gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten und Rätsel, denen man sich im Internet auf die Spur machen kann – übrigens auch eine wichtige Bedingung für die neue Serie. 1990 gab es noch kein Internet, das als Diskussionsmedium fungieren konnte. Dies führt meiner Meinung nach dazu, dass «Twin Peaks» in Staffel drei komplexer, undurchschaubarer und interpretationsoffener ist als früher – und es nun eben auch sein darf. Aber dies macht gerade auch den Reiz aus. Welche Serie fordert den Zuschauer schon noch so heraus? Welche Serie beschäftigt einen schon noch so intensiv, nachdem der Abspann gelaufen ist?

Eine episch-biblische Geschichte um Gut und Böse


Ein gemeinsamer Nenner der neuen Episoden ist folgender: David Lynch konterkariert jegliche Erwartung. Was auch immer man sich im Vorfeld über die dritte Staffel vorgestellt hatte, es traf nicht ein. Und auch während der Staffel wurden die Erwartungen gebrochen – ganz besonders beim Finale. Vorhersehbar ist nichts in «Twin Peaks». Und dies fasziniert mich als Serien-Nerd besonders. Wenn man viele Formate geschaut hat, dann vergleicht man. Man ordnet ein, sieht Story-Entwicklungen voraus und langweilt sich manchmal. Es ist schwer geworden im heutigen Seriengeschäft, die Zuschauer – Serienfans wie mich ganz besonders – zu überraschen und Neues auf den Bildschirm zu bringen. David Lynch und Mark Frost haben aber genau das geschafft, und das, obwohl sie keine neue Serie kreierten, sondern auch noch eine alte (und damit grundsätzlich bekannte) fortführten. Sie gaben den Fans nicht das, was die Fans wollten. Sondern sie gaben den Fans das, von denen diese noch gar nicht wussten, dass sie es wollten. Anders gesagt: Auch wenn alle Erwartungen enttäuscht wurden, ist «Twin Peaks» ein Meisterwerk. Oder gerade deswegen.

Beispiele für gebrochene Erwartungshaltungen gibt es viele: Die Geschichte spielt in Staffel drei weit über die Stadt Twin Peaks hinaus, sie besucht viele Orte in den USA und hat damit viele auch atmosphärisch unterschiedliche Settings. Die soapigen Genre-Versatzstücke fallen nahezu komplett weg, gleichzeitig fehlen die Coming-of-Age-Elemente: War «Twin Peaks» früher auch eine Serie über das Erwachsenwerden mit vielen jungen Charakteren voller (enttäuschter) Ideale und Träume, so wird die Jugend nun gebrochen dargestellt, drogensüchtig und desillusioniert. Die neuen Folgen porträtiert eher Hoffnungslosigkeit, sie zelebriert das Älterwerden, auch weil natürlich viele der früheren Charaktere Hauptrollen spielen. FBI-Agent Gordon Cole hört noch schlechter als früher, die Log Lady sitzt am Beatmungsgerät, Trailerpark-Manager Carl Rodd erträgt mit über 90 Jahren das Elend, das sich hinter den Fassaden abspielt. Einige Schauspieler sind mittlerweile verstorben, ihnen wurden Einzelepisoden gewidmet.

Anders als in den ersten beiden Staffeln weitet sich der Fokus von «Twin Peaks»: Es ist nicht mehr nur die Kleinstadt-Geschichte um Laura Palmer und den bösen Dämon BOB, sondern eine episch-biblische Geschichte um Gut und Böse geworden. Laura und BOB sind nur Puzzleteile in einem jahrzehntealten Kampf, der sich unter anderem in Twin Peaks manifestiert. Großartig an dieser Staffel ist, wie sie die Story aus den alten Staffeln perfekt aufgreift und fortführt, gleichzeitig aber eine neue erzählt. Es ist, als würde man zu alten Bekannten heimkehren, doch diese alten Bekannten haben sich im Laufe der Jahre stark verändert. Die großen Schauspieler erfahren eine große Huldigung – allen voran Kyle MacLachlan, der gleich mehrere völlig unterschiedlich angelegte Hauptrollen spielt. Das Finale ist eine Verbeugung vor der wunderbaren Sheryl Lee als Sarah Palmer. Generell etabliert Lynch in der dritten Staffel wichtige inhaltliche Rollen, ohne dass diese visuell anwesend sind: Vieles dreht sich wieder um Laura, obwohl der Charakter abseits des Finales kaum auftaucht. Andere Schauspieler sind bereits verstorben, aber ihre Rollen dennoch für die Story essentiell – so Major Briggs (Don Davis), BOB (Frank Silva) und Philipp Jeffries (David Bowie). Auch das habe ich so noch nie in einer anderen Serie gesehen.

«Twin Peaks»: Die Serie musste reifen wie guter Wein


«Twin Peaks» ist mehr als je zuvor ein vielschichtiges Puzzle, das dekonstruiert werden will. Kameraeinstellungen und Geräusche führen näher zur subjektiven Wahrheit; jeder Satz ist wichtig in diesem Komplex aus verschiedenen Zeit- und Raumebenen, Anderswelten, spirituellen Entitäten, Doppelgängern und Traumsequenzen. Andere Fans diskutieren ausgiebig verschiedenste Theorien, lassen ganze Folgen synchron nebeneinander laufen, weil Lynch und Frost auch hier Hinweise auf die Geschichte verstecken. Erst bei dritten und vierten Run entdeckt man, dass sich Szenerien plötzlich von einer Einstellung auf die andere verändern. Eine solche Detailverliebtheit habe ich noch nie erlebt. Manche Szenen sind schwarzweiß, andere wirken wie die LSD-Sequenz aus Kubricks «2001». Eine ganze Folge fungiert als Horror-Backstory zu den späteren Ereignissen und versetzt uns in die 40er und 50er Jahre. Einmal mehr, ähnlich wie 1990, haben Lynch und Frost für mich die Grenzen des seriellen Erzählens erweitert und mir gezeigt, was in diesem Medium (immer noch) möglich ist. «Twin Peaks» ist wie kein anderes Format auf so vielen Ebenen und in so viele Richtungen interpretierbar. Jeder findet seine eigene (Horror-)Vision in der Geschichte wieder.

Diese dritte Staffel ist eine Antithese zum schnell produzierten Serien-Einheitsbrei unserer Zeit. Man merkt, dass Lynch und Frost 25 Jahre Zeit hatten, um ihre Vision zurückzubringen. Und jede einzelne Szene lässt diese jahrelange Arbeit spüren. Zur Faszination dieser Serie gehört also für mich auch, dass sie so lange gebraucht hat, bis sie zurückkehrte. Es wirkt so, als habe man nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um weiterzuerzählen. Die Emotionen, die ich nun beim Sehen empfinde, haben sich mit jedem Jahr ohne «Twin Peaks» potenziert. Nur durch die lange Wartezeit kann ich solch eine Geschichte so intensiv wahrnehmen. Diese Art Story hätte nicht früher erzählt werden können, und sie hätte auch nicht eigenständig mit anderen Charakteren funktioniert. Kurz: Nur wenn man «Twin Peaks» vor vielen Jahren erlebt hat, entfaltet die dritte Staffel ihre volle Wirkung. Diese Serie ist wie ein guter Wein, sie musste erst reifen, um getrunken zu werden.

Um in der Metapher zu bleiben: Die neuen Folgen sind für mich ein großartiger Abschluss der gesamten Geschichte; das Glas ist leergetrunken. Ich habe Frieden mit «Twin Peaks» geschlossen. Zumindest in dieser Realität. Irgendwie.

"I don't want to lose myself
Tonight I sleep to dream of a place that's calling me
It's a whisper
It is always just a dream
It's a funny thing
Still I cannot forget what I have seen"

Au Revoir Simone, in «Twin Peaks» S3E9

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