Die Kino-Kritiker

Ein «Simpel» und seine berührende Odyssee

von

Regisseur Markus Goller präsentiert mit seiner tragikomischen Geschichte «Simpel» einen Film über zwei Brüder, die nicht ohneeinander können, sich aber langsam eingestehen müssen, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann.

Filmfacts: «Simpel»

  • Kinostart: 9. November 2017
  • Genre: Tragikomödie
  • FSK: 6
  • Laufzeit: 113 Min.
  • Kamera: Ueli Steiger
  • Musik: Andrej Melita
  • Buch: Dirk Ahner, Markus Goller
  • Regie: Markus Goller
  • Darsteller: David Kross, Frederick Lau, Emilia Schüle, Axel Stein, Devid Striesow, Annette Frier
  • OT: Simpel (DE 2017)
Wenn unsereins von einem fiktionalen Stoff begeistert ist, erzählt er am nächsten Tag höchstens Freunden oder Arbeitskollegen davon. Produzent Michael Lehmann dagegen sichert sich schon mal von heute auf morgen die Filmrechte daran; so geschehen nach einer Urlaubsfahrt nach Italien, auf welcher der Vorsitzende der letterbox Filmproduktion in den Genuss eines Hörbuchs kam. In «Simple» schildert die französische Schriftstellerin Marie-Aude Murail die Geschichte eines ungleichen Brüderpaares, das nach einem schweren Schicksalsschlag allein für sich sorgen muss. Nachdem der Roman 2006 auch in deutscher Sprache unter dem Titel «Simpel» auf den Markt kam, erntete er großes Kritikerlob und gewann unter Anderem den deutschen Jugendliteraturpreis. Aufgrund des wegen der Thematik hier besonders schwierigen Balanceakts zwischen Komik und Tragik, greift Michael Lehmann mit Regisseur Markus Goller auf einen Experten zurück, der sich nach Filmen wie «Friendship!» oder «Frau Ella» bereits auf diesem Terrain beweisen konnte.

Im Falle von «Simpel» besteht die Schwierigkeit vor allem darin, dass mit dem titelgebenden Barnabas alias Simpel eine Figur im Mittelpunkt steht, die aufgrund ihrer schweren geistigen Behinderung regelrecht dazu animiert, je nach emotionaler Reife des Zuschauers entweder ausschließlich Mitleid, oder Spott hervorzurufen. Markus Goller bleibt realistisch und lässt beides im Film vorkommen, doch lässt er derartige Gefühlsregungen nie unkommentiert. Mit einem Höchstmaß an Respekt für beide Figuren und ohne falsche Rührseligkeit kreiert er mit der zwischen todtraurig und ausgelassen changierenden Tragikomödie «Simpel» einen der besten deutschen Filme des Jahres.

Ein Bund fürs Leben


Seit Ben (Frederick Lau) denken kann, sind er und sein Bruder Barnabas ein Herz und eine Seele. Barnabas, „Simpel“ genannt (David Kross), ist 22 Jahre alt, aber geistig auf dem Stand eines Kindes. Quasilorten (Erdbeeren) sind sein Lieblingsessen und draußen im Watt entdeckt er mit seinem Stofftier Monsieur Hasehase neue Kontinente. Simpel ist anders und oft anstrengend, aber ein Leben ohne ihn ist für Ben unvorstellbar. Als ihre Mutter unerwartet stirbt, soll Simpel in ein Heim eingewiesen werden. Die einzige Person, die diesen Beschluss rückgängig machen könnte, ist ihr Vater David (Devid Striesow), zu dem die Brüder seit 15 Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Die Suche nach ihm entwickelt sich zu einer turbulenten Odyssee, bei der Simpel und Ben auf die Medizinstudentin Aria (Emilia Schüle) und ihren Kumpel, den Sanitäter Enzo (Axel Stein) treffen. Keiner der vier ahnt, dass sich hier eine große Freundschaft entwickelt – und vielleicht ein bisschen mehr. Gemeinsam fahren sie in die große Hansestadt, wo Simpel die Bekanntschaft mit Chantal vom Kiez macht und bei einem Koch-Versuch Arias Küche in Flammen setzt, während Ben ihren Vater David aufsucht und eine Entscheidung treffen muss, die ihm keiner abnehmen kann.

Die Prämisse von «Simpel» erinnert unweigerlich an die von Til Schweigers Kassenschlager «Honig im Kopf». Auch hier prallt die dramatische Studie einer schweren Krankheit (in seinem Fall Alzheimer) auf einen Roadtrip, de rmit diversen komischen Stationen und amüsanten Einfällen gespickt ist. Doch damit soll es mit dem Vergleichen auch schon gewesen sein, denn im Grunde möchte man Schweiger «Simpel» am liebsten zeigen und ihm zurufen: „So macht man das!“. Des gigantischen Zuschauerstroms zum Trotz («Honig im Kopf» gehört mit über sieben Millionen Zuschauern zu den zwanzig erfolgreichsten Filmen in Deutschland seit Aufzeichnung der Zuschauerzahlen), hatte die Tragikomödie mit ihrer unausgereiften Mischung aus gewollter Albernheit und halbherzigem Realismus nämlich ein großes Problem: So etwas wie Wahrhaftigkeit suchte man hier vergebens, was auch zwischen dem Regisseur und seinem Hauptdarsteller Dieter Hallervorden zu Reibereien führte, als eine dramatische Szene unliebsam mit Fürzen angereichert werden sollte – das geschah letztlich auch so.



Drehbuchautor Dirk Ahner («Die Pfefferkörner und der Fluch des schwarzen Königs») ist da weitaus subtiler und beweist zu jedem Zeitpunkt ein enormes Fingerspitzengefühl, was sich vor allem in der Betrachtung von Hauptfigur Simpel widerspiegelt. Schon in der aller ersten Szene kommt jene emotionale Ambivalenz zum Tragen, die sich in den kommenden 113 Minuten als beispielhaft für «Simpel» erweisen wird: Darin stellt Ben erschrocken fest, dass sein Bruder ohne Aufsicht das Haus verlassen hat, findet ihn schließlich ausgelassen am Strand spielend vor und lässt eine halbherzige Standpauke in die Erleichterung münden, dass es Simpel nicht bloß gut geht, sondern er trotz (oder gerade wegen!) seines geistigen Zustandes immerzu lebensfroh ist.

Das Zauberwort lautet: Fingerspitzengefühl


Aus der hohen psychischen und physischen Belastung für Simpels Umfeld macht der Film nie einen Hehl. Im Gegenteil: Markus Goller und sein Drehbuchautor widmen sich nicht bloß dem auf dem Stand eines Dreijährigen verbliebenen, jungen Mann, sondern geben vor allem Ben ausreichend Raum für eine nachvollziehbare Verzweiflung – und wenn Simpel aufgrund seiner Behinderung selbst zum fünften Mal nicht dahinter steigt, was sein Bruder von ihm möchte, dann scheut Goller nicht davor zurück, Frederick Lau («Victoria») Raum für einen wenig galanten Wutanfall zu geben. Trotzdem wird in dem Film weder Simpel, noch Ben in die Rolle eines Schuldigen gedrängt – schließlich bemühen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten beide darum, dem jeweils Anderen das Leben nicht allzu schwer zu machen.

Sogar die eigentlich für die Position des Antagonisten prädestinierte Rolle des überforderten Vaters erweist sich als weitaus komplexer: Der mit einem behinderten Sohn einst vollkommen vor den Kopf gestoßene David (Devid Striesow, «Ich bin dann mal weg», in einer kurzen aber einprägsamen Rolle) wird nicht bloß auf seine Ignoranz reduziert. Im Austausch mit seinem „normalen“ Sohn fällt es dem neu verheirateten Vater sogar recht leicht, über seine Schwierigkeiten mit Simpel zu sprechen, sodass man Davids Verhalten vielleicht nicht verstehen, es aber zumindest im Ansatz nachvollziehen kann.

Im Verlauf der zwei kurzweiligen, punktuell ein wenig überdreht inszenierten Filmstunden (Stichwort: Küche), die gleichermaßen auch eine Liebeserklärung an die Hansestadt Hamburg sind, treffen die beiden Brüder auf verschiedene Nebenfiguren, die die Geschichte auf ihre ganz eigene Art bereichern. Die von Annette Frier («Lucky Loser») wie immer fantastisch gespielte Prostituierte Chantal sorgt in ihrer lakonisch-trockenen Art für große Lacher. Hauptdarsteller David Kross («Der Vorleser») brilliert nicht bloß im Zusammenspiel mit ihr, sondern schlüpft wie selbstverständlich in die Haut eines geistig Behinderten, an dessen Gebaren man sich, ganz wie im echten Leben, zwar gewöhnen muss, der jedoch nie den Bogen zum Overacting überspannt. Er macht seinen Simpel zu einem herzensguten Mensch, der sich eben nicht über seine Behinderung definiert, sondern über Eigensinn und Charakter. Axel Stein («Männertag») und Emilia Schüle («Jugend ohne Gott») überzeugen indes als ernsthaft am Schicksal von Simpel interessierte Sanitäter, die Ben mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Vor allem Stein punktet mit einer bemerkenswerten Liebenswürdigkeit; wenn er Simpel abends zu Bett bringt, dann rührt das vor allem deshalb fast zu Tränen, weil es dem Schauspieler ganz selbstverständlich gelingt, enormes Verständnis für Bens schwierige Situation zum Ausdruck zu bringen. Sein Enzo ist es auch, der Ben erstmals mit einem schwierigen Gewissenskonflikt konfrontiert, den Frederick Lau wiederum herausragend authentisch und zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar auf die Leinwand bringt: Am Ende steht in «Simpel» nämlich vor allem die Frage im Mittelpunkt, wer hier wen am meisten braucht: Ben seinen Simpel oder Simpel seinen Ben? Diese Frage beantwortet Goller letztlich zaghaft – im wohl bittersüßesten Filmfinale, das man im deutschen Kino dieses Jahr zu sehen bekommt.

Fazit


«Simpel» ist das wahrhaftige Porträt einer beispielhaften Bruderliebe, das in seiner Dramatik zu Tränen rührt und trotzdem auch immer wieder zum Brüllen komisch ist. Frederick Lau und David Kross erwecken preiswürdig ihre beiden kantigen Figuren zum Leben. So wird aus «Simpel» eine Feelgood-Tragikomödie, ganz ohne die gängigen Wohlfühlmechanismen, die die Augen nicht vor der Wahrheit verschließt und dabei trotzdem immer optimistisch bleibt.

«Simpel» ist ab dem 9. November in den deutschen Kinos zu sehen.

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