
Bei allem visuellen Glanz und nostalgischen Glamour tut es dem filmischen Gourmet nur umso mehr weh, wenn Branagh auf digitale Effekte zurückgreift. Dies ist selten der Fall, etwa, wenn er das Stadtbild Istanbuls vergangener Tage künstlich erweitert oder den Orient-Express in eine Lawine fahren lässt. Trotzdem stechen diese digitalen, klinisch sauberen und unwirklichen Bilder aus dem restlichen, galant-praktikablen Film heraus, wie die Nase aus einem Gesicht – um es mit Poirots Worten zu sagen.
- © FOX
Branaghs Poirot hat neben diesem zitierfähigen Spruch generell sehr viel zu sagen – manch eine gehässige Seele wird Branagh daher maßlose Selbstverliebtheit vorwerfen. Jedoch hat die Verschiebung von der reinen Tätersuche hin zur Charakterbeobachtung, wer Poirot eigentlich ist und was dieser knifflige Fall mit ihm macht, durchaus Methode:

Einen Hauch an Leinwandzeit musste dafür das restliche Figurenensemble abgeben, dessen Verhörgespräche in der Branagh-Version spärlicher ausfallen als bei Lumet. Darüber hinaus verteilen sich die Verhöre, ganz kinematisch, über den ganzen Zug und spielen sich teils sogar um ihn herum ab. Löcher reißen Branagh und Green jedoch keine in den Kriminalplot – selbst in gestraffter Form bleibt er ein wichtiges Augenmerk des Films und hat Hand und Fuß. Manch eine Schlussfolgerung Poirots ist sprunghaft, von diesem Makel können sich allerdings weder Christies Original noch Lumets Verfilmung freisprechen.
Dafür nimmt sich diese Filmversion Zeit für einen stimmigen, kurzen Epilog, der zur Reflektion auf das Geschehen einlädt – und auf der Reisestrecke bis zu diesem Zeitpunkt gibt es ein Schaulaufen zahlreicher Schauspielgrößen. Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Michelle Pfeiffer und Daisy Ridley sowie die noch eher unbekannten Lucy Boynton und Sergei Polunin haben zwar allesamt nur jeweils eine kleine Handvoll an Szenen, um ihre Rollen mit Leben zu füllen, aber es gelingt ihnen allen, Eindruck zu hinterlassen. Selbst wenn das Skript in nur manchen Fällen das Zeug für dreidimensionale Charakterzeichnung hegibt – Daisy Ridley als freundlich-engagierte und dennoch verschlossene Gesprächspartnerin Poirots und Michelle Pfeiffer in ihrer pointierten Rolle einer Schwätzerin stechen dahingehend am meisten aus der Masse hervor.
Die Sache mit dem Schnauzer
Nicht nur Kenner des Lumet-Films stutzten, als sie erste Bilder von Kenneth Branagh mit Riesenschnauzer sahen – mit Albert Finneys Bart im Film von 1974 hat das kaum etwas gemeinsam. Aber: Agatha Christie soll an dem Filmklassiker nur einen Kritikpunkt gehabt haben – sie fand angeblich Finneys Bart zu schmächtig. Nun macht Branagh der Schriftstellerin also posthum ein Geschenk ...Fazit: Einsteigen, die Aussicht genießen und wahlweise miträtseln oder über die bewussten, organischen Änderungen gegenüber der Vorlage sinnieren: «Mord im Orient-Express» ist ein opulent ausstaffierter, spitzenmäßig besetzter Krimi, der auf der größtmöglichen Leinwand genossen werden sollte.
«Mord im Orient-Express» ist ab dem 9. November 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel