Wohin mit diesen ganzen Superlativen? Am besten in die Vergangenheit. Frühere Erfolge sind im Entertainment-Geschäft schnell vergessen. Letterman machte sich rar, gab nur ein paar Interviews. In einem dieser Interviews verriet er – fast schon still und heimlich – eine zukünftige Kooperation mit Netflix: Es geht zurück auf die Bühne, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Seine neue Talkshow «My Next Guest Needs No Introduction» wird auf Theaterbühnen aufgezeichnet, vor Publikum. 60 Minuten One-on-One-Talk mit nur einem Gesprächspartner. Zur Premiere gibt sich ein ganz besonderer Gast die Ehre: Barack Obama.
Lettermans neue Produktion ist das Gegenteil dessen, was er 33 Jahre lang verkörperte. Ruhig statt schnell. Ausufernd statt segmentiert. Tiefgründig statt oberflächlich. Reduziert statt glamourös. Letterman und Obama sitzen in zwei Sesseln auf der großen, sonst leeren Bühne. Fahles Licht fällt auf die Gesichter, nur schemenhaft ist im Hintergrund das Theaterpublikum zu erkennen. Es gibt keine Showeinlagen, keine Bands, keine Studiospiele, keine Bühnendeko. Nur die beiden Protagonisten und das gesprochene Wort. Hin und wieder zeigt Letterman Einspielfilme, die mit seinem Gast zu tun haben. 60 Minuten lang spielen sich Obama und Letterman verbal die Bälle zu, die beiden sind freundschaftlich verbunden und kennen sich aus früheren Late-Night-Zeiten. Es sind 60 sehr unterhaltsame Minuten.
Für Netflix ist die Show ein Segen: Bisher funktionierten die Gehversuche im Talkshow-Bereich kaum, die Late-Night-Show «Chelsea» endete still nach zwei Staffeln. Experiment gescheitert. Auch «Bill Nye Saves the World», ein anderes Factual-Format, konnte zumindest nicht an den Buzz anknüpfen, den Netflix mitunter bei seinen Serien erreicht. Mit Lettermans Show hat man nun einen neuen Modus gewählt: Ganz Netflix-untypisch wird jeden Monat eine neue Folge veröffentlicht. So garantiert man über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßige Highlights mit Star-Gästen, auf die man den Fokus legen kann. Es ist einfacher, eine monatliche Top-Show bewerben als wöchentlich drei Shows mit zahlreichen Gästen. Letzteres Modell hat mit «Chelsea» bei Netflix nicht gefruchtet. Nun versucht man das komplette Gegenteil.
David Letterman bei Netflix: Der Schmidt’sche Vollbart
Wie funktioniert also dieses Gegenteil bei Letterman und Obama? Mitunter geht es ernst und hintergründig zu. Die beiden diskutieren über die Errungenschaften des amerikanischen civil rights movement, den neuen Rassismus in den USA, die Wirtschaftskrise zu Obamas Amtsantritt und den Aufschwung, die neuen Technologien, über Privates: Wie verändert sich das Leben von Prominenten, wenn sie plötzlich aus dem Rampenlicht verschwinden? Was empfinden sie, wenn die Kinder von zuhause ausziehen? Letterman zeigt sich hier als großer, unterhaltsamer Interviewer, der die Dramaturgie eines langen Gesprächs perfekt beherrscht. Diese Fähigkeit kommt in seiner neuen Show voll zur Geltung, zuvor begnügte er sich in seiner Late Night angesichts der knappen Sendezeit als Smalltalker.
Wir lernen David Letterman hier von einer neuen Seite kennen – auch optisch: Mit seinem Vollbart erinnert er an Harald Schmidt, der nach seiner einjährigen Kreativpause ähnlich rustikal auf die Bühne zurückkehrte. Das war 2004 im Ersten, zuvor hatte Schmidt eine Weltreise veranstaltet – wie nun auch Letterman. Hat der große US-Entertainer etwa beim deutschen Pendant gelernt?
Zumindest dauerte Lettermans Kreativpause nun etwas länger. Umgekehrt aber könnte man folgerichtig fragen: Wann taucht Schmidt wieder auf? Eine reine Talkshow mit nur einem Gast könnte auch er tragen, solange er sich den Gast selbst aussuchen darf. Massenkompatible Unterhaltung würde dabei aber vermutlich kaum entstehen – eher ein intellektuelles Kulturgespräch unter Eliten. Es wäre eine andere Ebene als bei Letterman, der sich weiterhin als Entertainer aller Zuschauer versteht. In seiner zweiten Folge wird zu Gast sein: George Clooney.
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