Die Produktionsfirmen hinter «Jessica Jones»
- Marvel Television
- ABC Studios
- Tall Girls Productions
Die Netflix-Serien aus dem Marvel Cinematic Universe suhlen sich in ihrem dunkleren, raueren Tonfall, der sie von den meisten der Kinofilme aus diesem Multi-Media-Franchise abhebt. Aber Rauheit allein macht auch nicht glücklich, wie wohl alle bezeugen werden, die je mit einer vollauf rauen Zunge Bekanntschaft gemacht haben. Oder jene, die nicht vom Hype um die Marvel/Netflix-Serien angesteckt wurden. Stellenweise sind die Marvel/Netflix-Serien raue, langgezogene sowie Angelegenheiten ohne Tiefgang, da kann die reine Laufzeit einer Staffel noch so viel möglichen, ungenutzten Platz für Charakterisierung bieten.
Die erste Staffel «Jessica Jones» schöpfte dagegen aus dem Vollen, und machte sich den Grundtonfall ihrer Ecke des Marvel Cinematic Universe zu Eigen. Eigentlich wäre sie eine perfekte Miniserie: Mit der Schroffheit und der nachdenklichen Stirn eines Film noir behandelt sie das Traumata von Frauen, die häusliche Gewalt und/oder Vergewaltigung hinter sich haben. Tief im sarkastischen Galgenhumor ihrer Titelfigur findet sie dennoch Amüsement, während dieser Superhelden-Neo-Noir den Schrecken unzähliger Frauen in einem Schurken symbolisiert, der die Inkarnation des Patriarchat sein könnte. Er öffnet den Mund, und sein Wille geschieht, da ihn niemand hinterfragt.
Das Thema der Staffel, die Fähigkeit des Schurken und die Charakterisierung der Protagonistin gehen in der ersten «Jessica Jones»-Staffel perfekt Hand in Hand. Wieso das Risiko eingehen und nach diesem Volltreffer weitermachen? Es kann danach doch nur bergab gehen, oder?
Ich merke, dass ich zu oft "gehen" sage, schmeiße mich in meinen Trenchcoat, tigere durch die verregneten Straßen und mache mich auf die Suche nach dieser «Jessica Jones». Die ersten Passanten, die ich anspreche, wollen nicht mit mir reden. Vielleicht hätte ich nach der zehnten Dose Energy Drink mit dem Trinken aufhören sollen. Dann fällt mir ein, dass diese Film-noir-Erzählerkommentare nur ein überflüssiges Gimmick in meinem Artikel sind und zücke mein Smartphone, um mich damit auf Spurensuche zu begeben – und direkten menschlichen Kontakt zu vermeiden. Mein Informant 'Handy' verrät, dass die zweite Staffel «Jessica Jones» von einem rein weiblichen Regiestamm verwirklicht wurde und mit Hintersinn am Weltfrauentag Premiere feierte. Na, großartig, dass Pflicht mir als Mann diesen Auftrag gab. Klug mitgedacht! Da schreiben sich die Kommentare unter der Review von alleine. Ob ich nachsichtiger behandelt werde, weil ich einen Unisex-Vornamen habe?
Die thematische Dichte und Intensität der von vorne bis hinten nahezu perfekt durchdachten, für sich stehenden ersten Season kann die zweite «Jessica Jones»-Runde nicht wiederholen. Es lässt sich halt nicht ein zweiter Schurke vom Format eines Kilgrave aus dem Ärmel schütteln, der dank David Tennants schmierig-jovialer Darbietung und eines komplexen Skripts mit scheinbarer Leichtigkeit alles versinnbildlicht, was Frauen an Männern fürchten. Statt verzweifelt ein Kilgrave-Bootleg herbei zu biegen, und zwangsweise daran zu scheitern, verfolgt «Jessica Jones»-Showrunnerin Melissa Rosenberg einen schlüssigen Gedanken – und wechselt die Gangart, mit der «Jessica Jones» gesellschaftliche Probleme anschneidet.
Aus einer intensiven, die gesamte Staffel durchziehenden Parabel wird in Runde zwei eine Ansammlung an Querschüssen. In die Breite geht es dieses Mal, statt in die Tiefe. Allein in den ersten drei Episoden streift unsere titelgebende Privatdetektivin während ihrer Ermittlungen Brennpunkte wie die Erwartungshaltung, Journalistinnen sollten doch bitte leichte Themen anschneiden, Männer, die sich von kraftvollen Frauen bedroht fühlen, beleidigende Komplimente wie "Für ein Mädchen ganz gut" und Regisseure, die sich an junge Mädchen ranschmeißen. Das imponiert in seiner Konsequenz, Schussfrequenz und Treffsicherheit.
«Jessica Jones» bleibt sich als Superheldenserie treu, die mit einer Mischung aus Groschenroman-Direktheit und PeakTV-Dramaserien-Ernsthaftigkeit feministische Themenkomplexe aufgreift – all dies, während sie übernatürliche, aber actionarme Suspenseunterhaltung liefern möchte. Und wie schon in Staffel eins geht dieser Versuch insofern auf, als dass sich die gesellschaftskritischen Alltagsbeobachtungen fließend aus dem Fall ergeben, in dem die von Krysten Ritter gespielte Titelfigur ermittelt. Dass diese mit ihrer traumatischen Vergangenheit, dreist-durchbeißenden Art und ihrem sympathisch-rotzig-schwarzen Humor auf solche Beobachtungen gleichermaßen nachdenklich wie pointiert zu reagieren weiß, ist plausibel und stützt somit die innere narrative Logik dieses #Thinkpieces in Serienform.
- © Netflix
Aber wie viele Film- und Serien-Privatdetektive vor ihr, ist auch Jessica Jones nur so packend wie ihre Herausforderungen. Eine Heldin wider Willen muss sich halt gegen Dinge durchsetzen, die größer und rätselhafter sind als sie. Sonst wäre sie nur eine Protagonistin, die sich fragt, weshalb wir ihr überhaupt zugucken. Und da bietet Staffel eins durch ihre Intensität und ihrem strengeren Fokus eine größere Sogwirkung. Der Einstieg in die zweite «Jessica Jones»-Staffel ist im Vergleich fahrig: Unsere Heldin wird durch die Ambitionen ihrer besten Freundin Trish (mehr gefordert als in Staffel eins: Rachel Taylor) gegen ihren Willen dazu gedrängt, sich mit dem Ursprung ihrer Superkräfte auseinanderzusetzen. Dies bringt Andere in Gefahr und weckt Jessica Jones' Schuldgefühle, als Einzige aus ihrer Familie einen schweren Unfall überlebt zu haben. Und zwischendurch kämpft sie mit den Vorwürden New Yorks, eher Selbstjustiz-auf-zwei-Beinen zu sein als eine Heldin …Der Spannungsbogen fällt somit wacklig aus, selbst wenn einzelne Passagen überzeugen.
Mir wird bewusst, dass ich der zweiten Season «Jessica Jones» kaum eine fahrige Erzählweise vorwerfen kann, um parallel dazu selber eine in sich völlig zerrissene Kritik zu verfassen. Andererseits bin ich ein kleines Licht und «Jessica Jones» ist ein kostspieliges Premiumprodukt. Da liegen die Erwartungen anders! Und zur Not kann ich behaupten, das sei Absicht, um vorzuführen, wie der Einstieg in Staffel zwei so ist. Oh, dann sollte ich auch für Leerlauf sorgen, denn die dritte Folge zieht sich und zieht sich, weil der Plot einfach nicht ins Rollen kommen will. Dafür wird der Tür-Running-Gag aus Staffel eins in den neuen Folgen zum thematischen Motiv emporgehoben. Das gefällt mir. Sehr! Auch wenn ich nicht ganz raus habe, was das Tür-Motiv zur Grundaussage der Serie beiträgt. Aber, hey, ich sollte ja auch nur die ersten drei Folgen besprechen. Für die restlichen zehn Folgen kassiere ich nochmal ab. Und liefere einen zweiten Observationsbericht ab. Ha. Darauf erst einmal ein paar Liter Scotch.
Generell ist der Beginn der zweiten «Jessica Jones»-Staffel am besten, wenn er eng bei seinen weiblichen Hauptfiguren bleibt und ihre spezifischen Probleme thematisiert. Die Ausflüge ins Superheldenfach leiden dagegen mitunter an dürftigen Trickeffekten. Und der Mystery-Detektivarbeit-Plot kommt in den ersten drei Folgen nicht so richtig ins Rollen. Schade, dass «Jessica Jones» nicht mehr mit solch großem Abstand über ihren Netflix/Marvel-Kollegen schwebt. Aber reizvoll bleibt sie – vor allem dank ihrer im Superheldenserien-Kosmos einmaligen Beobachtungsgabe.
«Jessica Jones» lässt sich via Netflix streamen.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel