Der Camp-Prolog
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Als viel zitierter Kult, Teenager-Initiationsritus und Ohrwurmproduzent ist «The Rocky Horror Picture Show» längst dem Mainstream bekannt und so etwas wie ein filmischer Botschafter der Camp-Ästhetik. Was das ist? Nun, ich würde es so erklären: Auf zugängliche Weise schockierend, auf naive Art hochtrabend und stilisiert-frivol, ist Camp der extrovertierte Cousin des Kitschs. Während der Kitsch beim leisesten Kummer weint, ohne sich dabei das Make-up zu versauen, und alsbald wieder munter durchs Leben spaziert, hängt Camp mit den unbeliebten Kids auf dem Pausenhof augenrollend in einer Ecke herum, feiert abends dagegen grelle Partys.
Dass der gefeierte Camp-Botschafter «The Rocky Horror Picture Show» ein Remake erhalten soll, wurde jahrelang berichtet, und immer wieder kam das Projekt zu einem jähen Stopp. Bis es 2015 urplötzlich hieß, dass der US-Sender FOX das Remake in die Hände nimmt und es recht zügig umsetzen wolle. Ich verlor das Ganze aus den Augen, bekam am Rand lediglich mit, dass das «The Rocky Horror Picture Show: Let's Do the Time Warp Again» betitelte Remake im Herbst 2016 ziemlich sang- und klanglos versendet wurde und löschte seine Existenz alsbald aus meinem Gedächtnis, um Platz für andere Dinge zu schaffen.
Akt eins: Science Fiction / Spieleabend Ablenkung Feature
Kennt ihr das, wenn ihr beiläufig und aus reinstem Zufall mit einer Sache konfrontiert werdet, und ihr einsehen müsst: "Ich habe echt viel aus meiner Erinnerung verbannt!" Das ist mir am Samstagabend passiert, als ich bei Freunden zum Spieleabend eingeladen war und wir in einer Aufbaupause auf's Essen warteten. Im Hintergrund flimmerte der Fernseher vor sich hin, als ich auf einmal eine mir bekannte Melodie vernahm. Der Liedtext ließ ebenso einen Groschen bei mir fallen. "Then something went wrong / for Fay Wray and King Kong / They got caught in a celluloid jam …" Nur das begleitende Bild wollte mir nicht … naja … ins Bild passen. Wenn ihr versteht. "Das Lied ist doch 'Science Fiction/ Double Feature', der Eröffnungssong von «The Rocky Horror Picture Show»?!", murmelte ich in Gedanken zu mir selbst, feststellend, dass aber gerade etwas anderes laufen muss, da sich auf der Glotze nicht die ikonische Szene mit den roten Lippen im schwarzen Nichts abspielt.
Mein innerer Monolog setzte sich fort, während ich vor lauter Rätselraten wie hypnotisiert auf den Fernseher starrte und mich in Zeitlupe hinsetzte, so wie es öfters Filmfiguren machen, wenn sie von einer zu knackenden Nuss überwältigt sind: "Aber wieso läuft eine Blondine vor einem sehr stylisch aussehenden Kino herum?! Gibt es irgendeine Serie neben «Glee», die eine «The Rocky Horror Picture Show»-Hommage gemacht hat, und ich habe das nicht mitbekommen?" Meine Augen durchbohrten fast schon das Gerät, nahmen jeden Pixel auseinander, während die grauen Zellen ratterten und verzweifelt versuchten, der Situation Herr zu werden. "Dieses Lied gehört doch nicht zu diesen Bildern, das habe ich noch nie erlebt, was passiert da, wieso weiß ich nichts davon, dass es das hier gibt?" Ich versuchte, die Schauspielerin einzuordnen. Oder das Setting – habe ich die Kulisse in Szenenbildern einer Serie gesehen, die ich nicht verfolge? Eines war klar: Ich wollte noch vor der etwaigen Titeleinblendung von alleine dahinter kommen, welche Serie sich da vor «The Rocky Horror Picture Show» verneigt. Aber ich scheiterte.
Was mir jedoch gelang: Ich konnte wenigstens die Ästhetik, ach, den kompletten Stil dieser Sequenz einer Person zuordnen. Es gab so viele Hinweise auf einen bestimmten Regisseur. Es beginnt bei der Sängerin, die unter ihrem dicken Mantel die "aufgeschlampte" Uniform einer Platzanweiserin enthüllt, wie sie in den 40ern bis vielleicht noch in die 60er hinein in US-Kinos nicht unüblich war. Ihr Schauspiel: Sinnlich, doch das eigene Sexappeal so in die Waagschale werfend, dass kurioserweise (und ich glaube: ganz gezielt) der gegenteilige Effekt eintritt: Ihre Sinnlichkeit wird zu einem beiläufig-selbstbewussten Umstand und sie wirkt letztlich trotz kurzem, engen Rock und weitem Ausschnitt um eine Prise niedlicher als erotisch. Sie spielt eine etwas
'rotzige' Platzanweiserin, die Eintrittskarten augenrollend zerreißt und Kinobesucher, die sich daneben benehmen, schroff anfährt. Das Lichtspielhaus als solches scheint sie wiederum zu lieben, so wie sie sich mit glänzenden Augen vor Retro-Filmplakaten räkelt und mit verschmitztem Lächeln Popcorn schaufelt.
Die Rotzigkeit der Platzanweiserin wird von der Darstellerin mit dicken Signalen als ironisch signalisiert – mit angedeutetem Augenzwinkern und "tongue in cheek". Nicht nur im übertragenen Sinne! Ich bin mir sicher, dass sie in einigen Einstellungen wirklich die Zunge in die Backentaschen legt, um bei aller Frechheit und quietschig dargelegter Ironie noch immer lieb, verspielt und kokett zu wirken. Und dann bricht zwischendurch etwas kindlich-freudiges aus ihr heraus und sie hüpft förmlich auf der Stelle.
All dies in einer Kulisse, die weder authentisch alte Filmpaläste nachstellt, noch die Atmosphäre realer, moderner Kinos einfängt, die einen auf Retro machen. Es sieht aus wie die romantisch verklärte, verspielt-übertriebene Disney-Channel-Version eines Tributs an Kinos vergangener Tage, die den Nerv der Älteren im Publikum treffen und durch ihre Quirligkeit auch die Kinder abholen soll, welche selbstredend die Ganzen Referenzen und das triefende Nostalgiegefühl nicht einordnen können. Und wie wird das alles in Szene gesetzt? Mit kontrollierter Kamerabewegung, glatt, jedoch nicht charakterlos ausgeleuchtet, durch eine behutsam-dynamische Schnittarbeit mit etwas Tempo versehen. Irgendwie "gemütlich genug, um sich in der dezenten Seltsamkeit zu suhlen und gleichzeitig so flott, dass es etwas aufgekratzt wirkt". Eine ungewöhnliche Stilmischung, die mich fasziniert, weil sie keineswegs alltäglich ist und sich dennoch nicht mit lauter Stimme als schräg ankündigt. Es ist, so paradox es klingen mag, eine schüchterne Extrovertiertheit. Oder, mit anderen Worten:
"Alter, da hat irgendwer Kenny Ortegas Stil 1:1 kopiert! Ich möchte fast glauben, dass das wirklich Kenny Ortega inszeniert hat." Kaum ist dieser Gedankengang zu Ende, chargiert die Figur der Platzanweiserin innerhalb weniger Sekunden zwischen wahnsinnig, Wahnsinn imitierend, kindischem Herumalbern und gehaucht-campiger, semi-ironischer Sexyness. "Nein", sage ich zu mir, während alle Anderen im Raum längst wieder ihren Dingen nachgehen. "Das kann nicht von wem sein, der Kenny Ortega kopiert. Das muss Kenny Ortega selber gedreht haben!" Ich war vollkommen von der Situation überfordert, denn meine Vermutung, dass da irgendeine Serie «The Rocky Horror Picture Show» hochleben lässt, erschien mir plötzlich absolut unrealistisch, denn welche Serienproduzenten kaufen Kenny Ortega für eine Folge ein und drücken ihm ein fernsehfilmreifes Budget für solch eine Vorspannszene in die Hand?
Kurz darauf bestätigt der laufende Vorspann, dass Kenny Ortega Regie führt. "Das muss ein Film sein, aber das geht doch nicht ...", denke ich verdattert, bis auf der Leinwand-im-Film-im-Fernseher-eines-Freundes-von-mir der Schriftzug «The Rocky Horror Picture Show: Let's Do the Time Warp Again» prangt. Meine Kinnlade klappt runter und es fällt mir wie Schuppen von den Augen. "Stimmt, es gab neulich dieses TV-Remake. Ich Depp, wie konnte ich das vergessen? Moment. Warte … Das ist von Kenny Ortega?! Dann muss ich das ja sehr wohl gucken …"
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