
Der Process ist natürlich das einschneidende Erlebnis in jeder brasilianischen Biographie. Der Sohn aus gutem Hause hält sein persönliches Ergebnis für eine ausgemachte Sache: Seine Familie tut sich mit dem erlesenen Auswahlverfahren immer schon leicht. Das verführt aber zu Hochmut – auf die dem Sprichwort gemäß der unausweichliche Fall folgt. Kinder aus weit weniger betuchtem Familien, deren Eltern von der Hoffnung getrieben sind, dass ihr Nachwuchs es einmal besser haben soll, werden von frühesten Tagen an auf das Bestehen dieses sonderbaren Wettbewerbs gedrillt, dem gerade in diesen Kreisen eine schier religiöse Verehrung zuteilwird.
Die eigentlichen Bestandteile des Process sind offiziell zwar geheim, mit wenigen Ausnahmen aber weitgehend erwartbar. Belohnt werden hervorragende kognitive Fähigkeiten und ein Zustand ausgewogener Psyche. Unabdingbar ist der unbedingte Wille, zur erlesenen, elitären Gesellschaft in der Offshore zu gehören – und im Zweifel alles dafür zu tun. Doch was sich zunächst als Meritokratie geriert, ist nicht frei von systemimmanenten Fehlern und in höchstem Maße anfällig für Korruption, Willkür und bodenlose Ungerechtigkeiten.
Natürlich hat sich ein Gegenmodell formiert: eine Untergrundbewegung, die nicht nur reformerisch Verbesserungen und eine größere Gerechtigkeit im Process erreichen, sondern dieses schon im Grundsatz ungerechte System vollends beseitigen will, und die es für blanken Hohn hält, dass die erstaunlichen medizinischen Möglichkeiten und der kaum ermessliche Wohlstand nur einer Elite von 3% zur Verfügung stehen, während der Großteil der Menschen im erbärmlichsten Elend, zerfressen von Krankheit, Gewalt und Tod hausen muss. Doch diese Bewegung ist klein, ein wenig irre, versprengt, und ihre bisherigen Versuche, den Process zu infiltrieren und zu unterwandern, sind weitgehend ins Leere gelaufen.

Zum Einen ist das Gesellschaftssystem um den Process nicht von einer Elite auf eine breite Masse oktroyiert. Zumindest wirkt es nicht so – vielleicht, weil seit seiner Einführung schon viel Zeit vergangen ist, weil die ursprünglichen Grabenkämpfe ausgefochten sind und die unterlegene Seite resigniert hat. Doch jenseits der Resignation kommt die Akzeptanz, eine psychologische Überzeugung, dass alles so sein muss, wie es einem vorgelebt wird. Dass der Process eine gänzlich gerechte Veranstaltung ist, die allen, die es verdienen, ein besseres Leben ermöglichen wird. Ohne einen tiefen Glauben an meritokratische Werte wäre diese Gesellschaft unmöglich.
Zum Anderen erzählt «3%» eine emotional erlebbare Geschichte, indem die Serie ihre Figuren nicht zu wehrlosen Opfern einer ihnen feindlich gesinnten Gesellschaft degradiert, sondern sie handeln lässt, während der Duktus frei von didaktischen Anklängen bleibt. Die Allegorien werden subtil gesetzt und sind doch unübersehbar, weil der Gesamtzusammenhang ohnehin keine andere Lesart zulässt.
Der Kapitalismus ist ein beliebtes negatives Ziel von Erzählern überall, und auch deutsche Fernsehautoren halten mit ihrer Fundamentalkritik nicht hinterm Berg: ungerecht und unmenschlich sei er, wenn nicht im Grundsatz, so doch in seinen „Auswüchsen“, speziell dem „Finanzkapital“. Doch diese Fundamentalkritik wird meist nicht nur ohne jeden Sachverstand vorgetragen, sondern als didaktisches Lehrstück, in schulmeisterlichem Duktus, der seine Zuschauer nicht für voll nimmt, sondern ihnen sein Thema in elogenhaften Dialogen vortanzt, in die thematischer Hintergrund gepresst wird. «3%» zeigt, wie man es richtig macht, und selbst aus im Grunde eher simpler Fundamentalkritik eine intellektuell differenzierte, emotional erlebbare und spannende Serie schreibt.
Die Veröffentlichung der achtteiligen ersten Staffel ist weltweit am 25. November 2016 auf der Video-on-Demand-Plattform Netflix erfolgt.
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