InterviewAnnette Baumeister: ‚Spielberg hat zuspitzt und vereinfacht‘

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Am Montag strahlt arte eine Dokumentation über Emilie Schindler aus. Wir sprachen mit der Regisseurin Baumeister über die ehemalige Frau von Oskar Schindler.

Wer war Emilie Schindler?
Emilie Schindler war ein Mensch, der im Nationalsozialismus eindrucksvoll gezeigt hat, dass man als gewöhnliche Frau etwas gegen das Unrecht tun konnte. Sie hatte das Herz am rechten Fleck und wollte andere Menschen nicht leiden sehen. Deshalb hat sie gehandelt und Menschen vor dem Tod gerettet. Ich finde es faszinierend, dass sie als Ehefrau sehr viel Leid ertragen hat, aber bei der Rettung der Juden ihre passive Rolle verlassen und aktiv Menschen gerettet hat.

Warum ist sie als Heldin in Vergessenheit geraten?
Da spielen mehrere Gründe zusammen: Emilie Schindler stand vom Beginn ihrer Ehe im Schatten ihres Mannes. Oskar Schindler war eine schillernde Gestalt, der stets im Zentrum stehen wollte. Emilie drängte es nicht in den Vordergrund. Das war auch in der Nachkriegszeit so. Während Oskar Schindler Interviews gegeben und an der Verfilmung seines Lebens gearbeitet hat, lebte Emilie zurückgezogen in Argentinien und kümmerte sich um die Farm. Er hat den Lebemann gegeben und sie hat gearbeitet. Hinzu kommt, dass sich in der Nachkriegszeit niemand für weibliche Helden und Frauen im Widerstand interessiert hat. Frauen gehörten hinter den Herd. Punkt. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis zum Beispiel über Sophie Scholl geschrieben wurde. Und durch Spielbergs Schindlers Liste geriet sie dann vollends in den Hintergrund. Das Drehbuch hat sie aus ihrem eigenen Leben rausgeschrieben.

Wie ist das Verhältnis zu ihrem Mann Oskar gewesen?
Oskar Schindler war die Lebensliebe von Emilie Schindler. Sie hat ihn abgöttisch geliebt und ihn in der Erwartung geheiratet, eine gute Ehe zu führen und eine Familie zu gründen. Doch Oskar Schindler wollte sich in Wirklichkeit nicht binden. Er wollte weiter frei sein und das Leben eines Junggesellen führen. Heutzutage würde Emilie Schindler sich wohl scheiden lassen, das tat sie damals aus gesellschaftlichen, rechtlichen und religiösen Gründen jedoch nicht. Und darin besteht das gesamte Lebensdrama Emilie Schindlers.

Inwiefern wurde die Geschichte durch Spielbergs Film «Schindlers Liste» verfälscht?
Spielberg hat etwas gemacht, was alle Drehbuchautoren und Regisseure machen: zuspitzen und vereinfachen. Und deshalb spielt Emilie Schindler in Schindlers Liste bei der Rettung der 1200 Juden keine Rolle. Sie hat nur eine Nebenrolle, die der betrogenen und gedemütigten Ehefrau. Ganz wichtig ist jedoch: Spielberg hat nie behauptet, dass der Spielfilm die Wahrheit erzählt. Aber wir, das Publikum, haben die Geschichte für bare Münze gehalten. Ein Grund dafür war sicherlich, dass der Film schwarz/weiß ist, das wirkt dokumentarisch. Jedoch viel wichtiger: Der Erfolg von «Schindlers Liste» war so überwältigend, dass die Geschichte wahr sein musste. Endlich ein guter Deutscher! Kaum eine historische Figur wurde von Steven Spielberg so geprägt, wie Oskar Schindler. Das hatte dramatische Folgen für Emilie Schindler: Mit dem Film hat Spielberg ihr die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben genommen. (Spielfilme sind immer Produkte ihrer Zeit. Heute würde Spielberg sicherlich einen anderen Film machen. Vielleicht über das Ehepaar Schindler, das trotz aller privaten Probleme und Differenzen, 1200 Juden rettet.)

Obwohl Frau Schindler im Film einen Kurzauftritt hatte, wurde ihr gerade einmal 13.000 Dollar bezahlt. Warum war die Produktionsfirma so knausrig?
Die Sache ist etwas komplizierter, aber auch wenig schmeichelhaft für Spielberg. Oskar Schindler hatte bereits in den 60er Jahren einen Vertrag mit dem amerikanischen Filmstudio MGM geschlossen hat. Schon damals floss Geld. Leider hat Emilie Schindler kaum etwas davon gesehen. Spielbergs «Schindlers Liste» ist rechtlich gesehen eine Folgeproduktion und deshalb konnte Emilie Schindler zunächst wenig Geld bekommen. Später wurde der Betrag aber deutlich erhöht. Eine ganze andere Geschichte entlarvt jedoch, dass die Filmproduktion und Spielberg wenig Interesse an Emilie Schindler hatten. Kurz vor Ende der Dreharbeiten hat Emilie Schindler eine Einladung nach Israel zum Abschluss der Dreharbeiten erhalten. Sie wurde als „Überlebende“, also als eine von Oskar Schindler „Gerettete“, eingeladen. Nicht als Retterin oder Ehefrau von Oskar Schindler. Ok, sowas kann mal passieren, wenn das Büro einen Fehler macht. Aber bitter für Emilie Schindler war, dass sich nie jemand bei ihr entschuldigt hat. Auch nicht Steven Spielberg, als er sie bei den abschließenden Dreharbeiten getroffen hat. Anscheinend, so Zeitzeugen, hat er nicht einmal mit ihr gesprochen. Das hat Emilie Schindler sehr verletzt.

Warum ist Menschlichkeit keine Frage der politischen Gesinnung?
Oskar Schindler war Mitglied der NSDAP und er war menschlich. Wie geht das zusammen? Ganz einfach, weil er kein Nazi war. Er war in der Partei aus opportunistischen Gründen. Er wollte Geld verdienen. Und Emilie hat den Reichtum zunächst auch sehr genossen. Aber als sie dann das Leid der Juden gesehen haben, zeigte sich ihre wahre Gesinnung, ihre Menschlichkeit. Das ist das Verblüffende. Erst im Anblick des Leids und der Not der Mitmenschen zeigt sich, ob jemand die Würde des anderen Menschen achtet und verteidigt.

Warum haben Frauen in der Nachkriegsgeschichtsschreibung lange Zeit keine Rolle gespielt?
Weibliche Retter oder weiblicher Widerstand findet in den Jahrzehnten nach dem Krieg in Ost- und Westdeutschland nicht statt. Das Geschichtsfach wurde von Männern dominiert und die Menschen, die über Naziwiderstand in der Öffentlichkeit sprachen, wie Politiker, Militärs oder Geistliche, waren auch Männer. Zwangsläufig hatten sie einen männlichen Blick auf die Welt und einen männlichen Erfahrungshintergrund wie zum Beispiel die Erlebnisse an der Front Als dann in den 60er Jahren über Oskar Schindler groß in den Medien berichtet wurde, war es deshalb undenkbar, dass ein Reporter in Deutschland mal gefragt hätte: „Moment, was hat den Frau Schindler gemacht? Lebt sie? Wie geht es ihr?“.

Die Schindlers haben sich in Buenos Aires auseinandergelebt. Waren Sie ein modernes Paar?
Die beiden sind das Gegenteil eines modernen Paars. Sie sind das klassische Beispiel für Menschen, die nicht heiraten sollten. Die Ehe war schon nach wenigen Monaten zerrüttet. Oskar Schindler ging gleich nach der Hochzeit fremd, hatte nach wenigen Jahren zwei uneheliche Kinder und brachte die gesamte Mitgift durch. Heutzutage würden sie sich hoffentlich zügig trennen, aber damals war das undenkbar. Für Emilie als Frau wäre eine Scheidung sozial und finanziell katastrophal gewesen. Dazu kam, dass Emilie Schindler sehr gläubig war.

Warum verarmte das Paar?
Oskar Schindler konnte nicht mit Geld umgehen. Er war kein Geschäftsmann, sondern ein Lebemann, der das Geld verjubelte. Für Frauen, Alkohol oder Autos. Während der Nazizeit wurde er reich, weil die jüdischen Gefangenen für ihn gearbeitet und seine Bücher geführt haben. Nach dem Krieg hatte er keine Juden mehr, die für ihn die Geschäfte führten. Egal ob Geflügelfarm, Zementwerk, Biberzucht, er ging mit jeder neuen Unternehmung bankrott.

Was für eine Rolle spielt der Film im Kontext der aktuellen Antisemitismus-Debatte?
Emilie Schindler sah in jedem Gegenüber den Menschen. Menschlichkeit war der Kern ihres Lebens. Sie hing keiner Ideologie an und das machte sie auch immun gegen Antisemitismus. Ideologie bedeutet immer, dass man sich von Ideen steuern lässt, anstatt von Mitgefühl. Das gilt für die Zeit des Nationalsozialismus und auch für heute.

Zahlreiche Streamingdienste reißen sich um spannende Geschichten. Warum ist der in der arte-Mediathek gelandet?
Der Grund ist simpel: ARTE und der BR wollten die Geschichte von Emilie Schindler unbedingt erzählen. Die internationalen Rechte sind meines Wissens noch zu vergeben. Es kann also gut sein, dass der Film mal außerhalb von Deutschland bei Streamern laufen wird

Die Dokumentation ist verhältnismäßig kurz in der Mediathek verfügbar – bis zum 17. August. Warum ist das so?
Leider kann ich da bislang keine Antwort geben.

arte strahlt «Emilie Schindler - Die vergessene Heldin» am Montag, den 20. Mai, um 23.00 Uhr aus. Die Dokumentation ist bis 17. August 2024 in der Mediathek verfügbar.