InterviewOliver Schmidt: ‚Natürlich mache ich mal winzige, mal größere Fehler‘

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Seit 14 Jahren gehört Schmidt zu den Kommentatoren des Zweiten Deutschen Fernsehen. Am Freitagabend kommentiert der Sportreporter das Eröffnungsspiel gegen Schottland.

Hallo Herr Schmidt, Sie kommentieren für das ZDF bei der Europameisterschaft und übernehmen direkt zu Beginn das Eröffnungsspiel. Ist dies das bedeutendste Spiel Ihrer Karriere?
Es wird hoffentlich ein emotionaler, mitreißender Start in diese Europameisterschaft. Gerne mit den Zutaten der Weltmeisterschaft 2006: Sommertage und herzerfrischend offene, gut gelaunte Gastgeber allerorts. Wenn dann von diesem ersten Spiel – wie schon damals in München – wieder eine Welle ausgeht, die auch die deutsche Mannschaft durchs Turnier trägt, bitte schön. Für mich ist es natürlich ein besonderes Spiel, aber das ist jedes Live-Spiel. Denn nie weiß ein Kommentator – wie auch die Zuschauer – was ihn wann erwartet in den kommenden 90 Minuten. Ein Tor nach acht Sekunden oder doch erst ganz, ganz spät? Ich freue mich auf Deutschland – Schottland, aber ebenso auch auf jede weitere Partie die folgen wird.

Der heutige Co-Trainer der Nationalmannschaft, Sandro Wagner, saß für das ZDF auch lange am Mikro. Hat Sie dessen steile Karriere überrascht? Wie dick sind noch die Verbindungen zu ihm?
Sandro Wagner ist ein herausragender Typ und eine tolle Persönlichkeit. Er war eine absolute Bereicherung für jeden Kommentator. Dass er uns verlassen hat, werde ich ihm so schnell nicht verzeihen 😉. Doch weil er gut ist in dem, was er tut, ist es natürlich weiterhin ein Vergnügen, den Kontakt lose aufrechtzuerhalten. Sein Aufstieg zum Co-Trainer der Nationalelf hatte eine überraschende Dynamik, aber inhaltlich und emotional dürfte Sandro ein sehr wichtiges "Puzzleteil" sein im Adlerhorst. Der Mann wird früher oder später bestimmt erfolgreicher Erstligatrainer.

Auf Kommentatoren ergießt sich häufig auch der Frust einer enttäuschten Fangemeinde. Wie gehen Sie mit unsachlicher Kritik um? Beschäftigen Sie sich länger mit Hasskommentaren in den sozialen Medien?
Nein. Natürlich mache ich – wahrscheinlich bei jeder Kommentierung – mal winzige, mal größere Fehler. Über die ärgere ich mich selbst am meisten. Sachdienliche und kritische Hinweise, inhaltliche Anmerkungen oder Korrekturen aus einem engeren dienstlichen oder privaten Umfeld sind mir wichtig. Hass, Häme oder selbst Lob aus den Sozialen Medien spielen keine wesentliche Rolle.

Die Stimmung im Netz unterscheidet sich häufig massiv von den Meinungen in den Fankurven, wo meist ein sehr differenzierter Austausch stattfindet. Warum werden Ultra-Gruppierungen dennoch häufig so negativ dargestellt?
Ultras spielen bei der EM keine Rolle. Das DFB-Publikum hat, bis auf wenige Ausnahmen, nichts mit der Fankultur aus den deutschen Ligen zu tun. Von mir werden die organisierten Fans selten negativ und schon gar nicht einseitig negativ dargestellt. Sicher stimme ich nicht mit all ihren Forderungen und Meinungen überein, ganz sicher sogar ist Gewalt völlig idiotisch und unangebracht, ebenso grenzüberschreitende Drohungen gegen die eigenen Spieler oder mancher Pyro-Exzess. Aber als kritische Zuschauer sind Ultras in Deutschlands Fußballligen bereichernd: Der Einsatz für bezahlbare Tickets, das Hinterfragen von Investoreneinstiegen, den eigenen Klub- oder fremden Verbandsmächtigen den Spiegel vorhalten, die lokale Gemeinschaft unterstützen und vieles mehr – das macht eine lebendige, kritische Fußballkultur aus. In der Berichterstattung wird auch hin und wieder „dramatisiert“, als seien alle Ultras gewaltverherrlichende Pyromanen. Vielleicht müsste der ein oder andere Berichterstatter auch mal wieder mit einer Kaufkarte in einen Auswärtsblock gehen. Dort und auf dem Weg dorthin erleben Fans, je nach Reiseziel, manch würdelose Behandlung. In den Stadien sollte ausreichend Raum gegeben sein für günstige Stehplätze und laute, kritische Kurven.

Die Stimmung rund um den DFB ist so gut wie seit Jahren nicht mehr, vor allem die Testspiele im März waren echte Stimmungsaufheller. Sind die Deutschen, wenn es um die Nationalmannschaft geht, Erfolgsfans? Wenn es schlecht läuft, wird draufgehauen, bei Siegen wird maßlos gefeiert.
Seit der Heim-WM 2006 hat das "Rudelschauen" – das Public-Viewing – das gemeinschaftliche Erleben und Teilen von Gefühlen rund um die Nationalmannschaft verändert. Mindestens mal bei den Großereignissen alle zwei Jahre, wenn sich wesentlich mehr Menschen als üblich mit dem Fußball beschäftigen und Teil dieses „Erlebnisses“ sein möchten. 80 Millionen Bundestrainer und Kommentatoren sind dann im Dienst. 😉 Und natürlich ist die Neigung im Sport, gerade im Fußball, groß, alles nur in schwarz oder in weiß zu sehen. Leistung wird zwar honoriert, am Ende aber zählt in Deutschlands wichtigstem Sport das reine Ergebnis. Doch bei den anderen großen Fußballnationen ist zumindest das nicht anders.

Steht die Mannschaft damit im Eröffnungsspiel unter einem ähnlichen Druck wie 2006, als kaum jemand an ein erfolgreiches Turnier glaubte, die Zuversicht nach dem Costa-Rica-Sieg aber zurückkam?
Ist das der Druck von außen oder auch der selbstauferlegte – das Erfüllen der eigenen Erwartungen und Träume? Ein erstes Spiel bei einem Turnier hat es immer in sich – kein Team weiß, wie stark es ist im Vergleich zu den anderen. Und ein Eröffnungsspiel als Gastgeber multipliziert die ganze Aufregung und Ungewissheit noch um ein Vielfaches. Und natürlich kann ein erfolgreicher Auftakt eine Mannschaft durch ein Turnier tragen – gerade vor eigenem Publikum. Aber: Bei der zurückliegenden Weltmeisterschaft verlor der spätere Titelgewinner Argentinien die erste Partie sensationell gegen Saudi-Arabien. Nachrufe wurden da schon geschrieben. Am Ende gab es dann Lobeshymnen auf Messi & Co.

Die Zuschauerzahlen beim letzten Männer-Turnier waren 2022 sehr enttäuschend. Erhoffen Sie sich durch die Heim-EM einen Reichweiten-Boost?
Die Einschaltquote ist für meinen Arbeitgeber zurecht wichtig. Für mich als Kommentator spielt sie keine Rolle. Das darf sie auch nicht, denn selbst wenn nur einer zuschaut, schulde ich ihm die beste Vorbereitung aufs Ereignis und die – aus meiner Sicht – bestmögliche Kommentierung eines Spiels.

Der Turnier-Modus sieht vor, dass von den 24 Teams zwei Drittel die K.O.-Phase erreichen. Verliert die Gruppenphase damit nicht wahnsinnig an Bedeutung?
Das ist kein neuer, aber immer noch ein anhaltender Trend – siehe Champions League- oder WM-Reform: mehr Teilnehmer, mehr Spiele, mehr Einnahmen. Schön, dass auch kleinere Nationen eine größere Chance haben, sich zu qualifizieren und zu überraschen. Wales etwa war 2016 großartig: fabelhafte Fans und ein Sensationssieg im Viertelfinale gegen den „ewigen Favoriten“ Belgien. Dass aber zum Beispiel bei einer EM 16 von 24 Teams ins Achtelfinale einziehen, verwässert den sportlichen Wettbewerb enorm.

Ein Tipp zum Auftakt: Wer gewinnt das Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland?
Sportlich? Deutschland! Atmosphärisch? Aus deutscher Sicht bestenfalls unentschieden, vielleicht sogar mit leichten Vorteilen für die stimmgewaltigen Schotten…

Viel Erfolg am Freitagabend!