HingeschautDie bemerkenswerte Nüchternheit der ARD

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Ein Handspiel in der Verlängerung des Viertelfinals zwischen Spanien und Deutschland erzürnte die Gemüter. Das Privatfernsehen ging mit der Situation gänzlich anders um als die öffentlich-rechtliche ARD.

Es ist Freitagabend. Die spanische sowie die deutsche Fußball-Nationalmannschaft haben sich über 90 Minuten einen erbitterten Kampf geliefert. Das erste Viertelfinale der Euro 2024 wog hin und her, Dani Olmo traf für Spanien, Deutschland glich in Person von Florian Wirtz kurz vor dem Abpfiff aus und versetzt das Gastgeber-Land in Ekstase. Schiedsrichter Anthony Taylor pfiff zur Verlängerung.

Es läuft die 106. Minute. Die zweite Halbzeit der Verlängerung ist wenige Sekunden alt. Der erste Angriff der deutschen Mannschaft beginnt mit einem langen Pass von Waldemar Anton, Spanien kann abwehren, Jamal Musiala und Toni Kroos luchsen daraufhin Mikel Merino im Mittelfeld den Ball. Der Ball gelangt auf die Außenbahn zu Thomas Müller, der seine Flanke zu Niclas Füllkrug im Strafraum anbringt. Der Stürmer von Borussia Dortmund legt den Ball zurück zu Musiala, der aufs Tor des spanischen Keepers Unai Simón schießt. Es folgt ein kollektiver Aufschrei. Auf den Rängen. Auf dem Feld. Auf der Auswechselbank. Nur eines blieb stumm: die Pfeife von Schiedsrichter Taylor. Der spanische Linksverteidiger Marc Cucurella hatte Musialas Schuss mit der Hand geblockt und wirkte zunächst selbst überrascht vom ausgebliebenen Pfiff. Für noch größere Verwunderung beim Publikum sorgte die Tatsache, dass der Videoschiedsrichter aufgrund der klar zu erkennenden Berührung des Balles mit der Hand, nicht eingriff.

Die italienische Zeitung ‚Tuttosport‘ titelte daraufhin: „Der sensationelle Fehler von Taylor belastet den Spielverlauf, da er ein klares Handspiel von Cucurella im spanischen Strafraum nicht sanktionierte.“ Spanien gewann die Partie durch ein Tor von Merino nach Verlängerung mit 2:1. Das Handspiel bleibt die wohl größte sportliche Aufreger-Szene dieser Europameisterschaft. Es ist nicht neu, dass die Handspiel-Regel nur sehr schwer zu durchschauen ist. Nach dem Viertelfinale glich Fußball-Deutschland einem emotionalen Trümmerhaufen. Der späte Siegtreffer der Spanier war mehr als ein Schlag in die Magengrube, gleichzeitig konnten die Fans auch stolz auf die Mannschaft sein, die zeitweise begeisternden und erfolgreichen Fußball gespielt hatte. Wer hätte im November gedacht, als Deutschland in Wien mit 0:2 gegen Österreich unterging, dass dieses Team den Einzug ins EM-Halbfinale denkbar knapp verpassen würde. In dieses Gefühlsgemisch gesellte sich zudem noch die Emotionalität des Abschieds hinzu, denn in Toni Kroos verließ einer der größten deutschen Fußballer aller Zeiten zum letzten Mal den Rasen.

Der Furor des Michael Ballack
Es obliegt jedem selbst, wie man in solch einer hochemotionalen Situation reagiert, im deutschen Fernsehen gab es jedenfalls zwei gänzlich unterschiedliche Herangehensweisen. Bei MagentaTV brachen in Person von Michael Ballack nahezu alle Dämme, denn der ehemalige DFB-Kapitän ließ sich über die undurchsichtige Handspiel-Regel aus. Dass der Ball am Freitagabend in der 106. Minute mit der Hand gespielt wurde, ist unstrittig. Dass sich Argumente für und gegen einen Elfmeter finden lassen, ebenfalls. Im Zwiegespräch mit dem aktiven Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich schäumte der heisere und eigenen Angaben zufolge „bisschen parteiische“ Ballack förmlich vor Wut. Ittrich, der sich auf der Plattform ‚X‘ durchaus kommunikativ zeigt, versuchte sich an einer Erklärung, warum das aus Ballacks Sicht klare Handspielvergehen nicht gepfiffen wurde.

Ittrich konzentrierte sich daraufhin vor allem auf den Umstand, dass der Videoschiedsrichter (VAR) nicht eingegriffen hat. Es handelte sich schließlich um eine „50:50-Entscheidung“, der VAR hätte keine Bilder liefern können, die der Entscheidung des Schiedsrichters widersprochen hätte. Das Problem an der Handspiel-Regel sei ein „Interpretationsraum“ für den Schiedsrichter. Daraufhin fiel Moderator Johannes B. Kerner auf den Irrglauben rein, dass es bei Schiedsrichter-Entscheidungen nur „richtig“ oder „falsch“ geben würde. Spielsituationen haben viel Einflussfaktoren, die es bei einer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen gilt. So kann es vorkommen, dass es Entscheidungen gibt, die weniger falsch sind als andere, manchmal geht es um ein Aufwiegen von Argumenten.

In der ARD war Schiedsrichter-Expertin Bibiana Steinhaus-Webb rund eine Minute nach dem vermeintlichen Vergehen live on air und gab Folgendes zu Protokoll: „Hier hat sich der Spieler so zum Ball verhalten, dass er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und die Arme in einer natürlichen Körperhaltung zu seiner Aktion hatte. Auch wenn er dazu ein bisschen die Körperfläche verbreitert hat, hat sich hier der Schiedsrichter dazu entschieden, das Spiel weiterlaufen zu lassen und nicht auf strafbares Handspiel zu entscheiden.“ Ittrich vermochte es während der aufgeheizten Diskussion im Anschluss an die Partie keine klare Situationsbeschreibung zu liefern. Kerner, eigentlich als Moderator angestellt, schaffte es nicht Ruhe und Klarheit ins Gespräch zu bringen, sondern goss selbst noch Öl ins Feuer.

ARD-Kommentator Gerd Gottlob sagte nach Steinhaus-Webbs Einwurf und einer kurzen Pause: „Das wird noch diskutiert werden, so viel ist sicher. Aber es ist entschieden, das müssen wir jetzt nicht weiter besprechen“, und schob damit die Angelegenheit richtigerweise zur Nachbesprechung ab. Während Ballack, Kerner sowie Ex-Nationalspieler Shkodran Mustafi also bei MagentaTV der Furor ins Gesicht stand, gab die ARD ein deutlich zurückhaltenderes Bild ab.

«Sportschau» lässt die Emotionen auf dem Rasen
Experte Bastian Schweinsteiger wirkte angesichts der herausfordernden Emotionalität zunächst wie gelähmt und gab wenig schlaue Analysen ab wie: „Deutschland war ab der 70. Minute die klar bessere Mannschaft. Der einzige Unterschied: die Spanier kommen einmal vors Tor und machen den Ball halt rein.“ Auf das Handspiel angesprochen wurde Schweinsteiger zwar ein wenig emotionaler, ihm habe das Herz geblutet, doch schuldig bleib er sowohl einen Erklärungsansatz als auch echte Erbostheit. „In neun von zehn Fällen“ wäre Elfmeter gepfiffen worden, so der Weltmeister von 2014, der zugab, dass es keine Absicht des Spaniers gewesen sei.

Der direkten Frage von Moderatorin Esther Sedlaczek konnte er aber nur mit einem bayrisch-gemurrten „Ja das muss mir mal einer erklären“ entgegnen. Er als «Sportschau»-Experte ist eigentlich angestellt, sie zu liefern. Das macht einerseits deutlich, wie kompliziert die Handregel zu sein scheint, andererseits sollte ein gewissenhafter Experte auf solche Entscheidungen besser vorbereitet sein. «Rasenfunk»-Moderator Max-Jacob Ost sprach in seinem Podcast davon, dass die UEFA einen ähnlichen Fall im Vorfeld des Turniers bei einem Medien-Briefing aufgezeigt hatte und darauf hinwies, dass es sich bei dieser Handhaltung eben um kein strafwürdiges Handspiel handeln würde. Im Ersten musste also erneut Bibiana Steinhaus-Webb ans Mikrofon treten. Sie löste diese Aufgabe mit Bravour: Sie beschrieb die Szene sehr detailliert, blieb aber prägnant. Die ehemalig Bundesliga-Schiedsrichterin wählte Worte, wie „scharfer Schuss“, „kurze Distanz“. Der Spielleiter müsse „alle Kriterien“ berücksichtigen, es gehe um eine „unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche“, diese sei „angemessen für die Verteidigungshaltung“ gewesen. Der VAR hätte nicht eingreifen dürfen, da es sich um keine eklatante Fehlentscheidung gehandelt habe – Ittrichs Stichwort des Interpretationsraum.

Beide Schiedsrichter-Experten eint, dass sie ihrem Kollegen Taylor nicht in den Rücken fallen wollen. Steinhaus-Webb sollte sich auf Nachfrage von Sedlaczek festlegen, wie sie entschieden hätte. Sie tat es schlicht nicht. Die Handspiel-Regel bleibt ein kommunikatives Desaster im Fußball-Sport. Weder scheint die Regel klar definiert noch schaffen es die Verbände die Situationen klar einzuschätzen. Das Problem ist gerade im Hinblick auf Eingriffsmöglichkeiten des VAR nicht neu. Schon in der im Sommer 2023 erschienen Doku-Serie «Unparteiisch», in der Deutschlands Elite-Schiedsrichter ein Jahr lang mit der Kamera begleitet wurden, wies Jochen Drees, Leiter Video-Assistenten und Technologien, darauf hin, dass die Öffentlichkeit oftmals mit einer falschen Erwartungshaltung an den VAR herangehe und eine maschinelle Analyse einer Situation, bei der am Ende „richtig“ oder „falsch“ herauskomme, erwarte. Diese Erwartungshaltung sei aber an sich inkorrekt, weswegen der Videobeweis auch in zehn Jahren nicht funktionieren werde. Zumindest schaffte es Bibiana Steinhaus-Webb, dass durch ihre Ausführung Ruhe in die Diskussion einkehrte. Schweinsteiger nahm die Analyse der Situation bereitwillig an, das Thema war abgearbeitet.

Im Spiel Elf gegen Elf stecken viele Geschichten. Über Fußball lässt sich seit Jahrzehnten wunderbar diskutieren, das Spiel Spanien gegen Deutschland fügt dieser Erzählung nur ein weiteres Kapitel hinzu. Die Mannschaften lieferten sich einen tollen Kampf auf dem Feld, unverdient hätte Deutschland nicht gewonnen noch zog Spanien unverdient ins Halbfinale ein. Es ist gut möglich, dass das Spiel in der Historie auch als Grundstein für die Überarbeitung einer Regel gesehen wird. Zumindest sollte aber zumindest die Erkenntnis gewonnen worden sein, dass es sich lohnt, Experten zu vertrauen und ihnen genau zuzuhören. Redet man im Falle von Ballack und Ittrich aneinander vorbei, wird man in der Sache selbst nie auf einen grünen Zweig kommen. Schweinsteiger hat die Entscheidung des Schiedsrichters dank Steinhaus-Webb schnell verstanden, darf die grundlegende Regel aber weiterhin doof finden. Das ist sein gutes Recht und eine neue Ebene, auf der sich zu diskutieren lohnt.