Interview«Im Moment der Angst»: ‚Dieses Thema betrifft alle Menschen in unserem Land‘

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Franziska Dillberger, Redaktion NDR, und Claudia Thieme, Produzentin Letterbox Filmproduktion, sprachen mit Quotenmeter über den «Großstadtrevier»-Eventfilm „Im Moment der Angst“.

Wie entstand die Idee, das 90-minütiges Special zum «Großstadtrevier» mit dem Titel „Im Moment der Angst“ zu machen, das sich so intensiv mit psychologischen und gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt?
Franziska Dillberger: Nach dem Erfolg des ersten «Großstadtrevier»-Films „St. Pauli, 06:07 Uhr“ mit fast sieben Millionen Zuschauenden und einem Marktanteil von 23,4 Prozent im Ersten fragte uns Frank Beckmann in der Funktion als Koordinator ARD-Vorabend und NDR-Programmdirektor direkt am Tag nach der Ausstrahlung, ob wir uns vorstellen könnten, einen zweiten Film zu drehen. Es ist ein Markenkern der Serie, sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinanderzusetzen, und die Filmlänge bietet den Rahmen, psychologisch in die Tiefe gehen zu können. Für uns sind die Exkurse in die Spielfilmlänge daher eine Chance zu zeigen, was in der Serie steckt.

Inwiefern unterscheidet sich die Herangehensweise an ein 90-minütiges Special von der Produktion der regulären Episoden? Gab es Unterschiede im Budget, der Planung oder der Inszenierung?
Franziska Dillberger: Tatsächlich ist das Budget für einen Spielfilm, der aus dem Vorabend entsteht, nur geringfügig höher als für zwei Serienepisoden. Der Sendeplatz am Hauptabend weckt bei den Zuschauenden bestimmte Erwartungen. Aber auch die Kreativen hinter dem Film wollen mit dem Film die Grenzen der Serie sprengen. Das ist eine große Herausforderung, die nur durch gute produzentische Planung, ein eingespieltes Team und einen Autor und Regisseur bewältigt werden kann, die die Serie gut kennen.

Was hoffen Sie, dass die Zuschauer aus „Im Moment der Angst“ mitnehmen? Gibt es eine Botschaft, die Ihnen persönlich besonders am Herzen liegt?
Franziska Dillberger: Es gibt eine Kernszene in dem Film, in der Frau Küppers Harry fragt, was für eine Polizistin sie sein möchte. Fehler passieren. Aussetzer passieren. Aus welchen, womöglich gerechtfertigten, Gründen auch immer. Aber was uns als Mensch definiert, ist der Umgang damit. Harry richtet sich auf und wird im Laufe der Handlung kriminellen Machenschaften auf die Spur kommen. Sie schafft es, sich bei ihrem Partner zu entschuldigen, und sie tritt ihrem größten Ankläger entgegen. Das braucht Mut und Haltung. Und dafür ist es nie zu spät.

Was waren die größten Herausforderungen bei der Produktion eines Films, der die gewohnte Krimi-Erzählweise um tiefgründige Themen wie Trauma und Schuld erweitert?
Claudia Thieme: Die größte Herausforderung war sicherlich, dem Thema im Drehbuch inhaltlich gerecht zu werden. Nach Abnahme des Drehbuchs war die nächste Herausforderung, ein Krankenhaus als Drehort zu finden - kritisieren wir in unserer Geschichte doch das Gesundheitssystem im Ganzen.

Wie haben Sie den richtigen Ton zwischen Spannung, Emotionalität und Sozialkritik gefunden, ohne die Balance zu verlieren?
Claudia Thieme: Das ist die Gratwanderung, die unser Team gemacht hat. Natürlich die Schauspielenden, aber auch alle Gewerke hinter der Kamera. Den Drehbuchautoren Andreas Kaufmann, der seit langem für das «Großstadtrevier» schreibt, kenne ich für seine vielschichtigen und einfühlsamen Geschichten. Regisseur Florian Gottschick hat vor dem Spielfilm über die Jahre neun Folgen inszeniert und kennt das Ensemble. Er achtet in seiner Inszenierung sehr auf die handelnden Figuren und schenkt jeder einzelnen viel Aufmerksamkeit, so dass es authentische, echte Figuren werden. Die Editorin Janina Gerkens, die Musik von Philipp Kobilke, alle tragen zu dieser Balance bei. Im Endeffekt aber werden die Zuschauer*innen beurteilen, ob sie die Balance für gelungen halten.

Der Film greift aktuelle Missstände im Gesundheitssystem und die gesellschaftliche Abgehängtheit vieler Menschen auf. Warum war es Ihnen wichtig, diese Themen in den Fokus zu rücken?
Claudia Thieme: Als Andreas Kaufmann mit dieser Idee kam, war ich sofort gefesselt. Dieses Thema betrifft alle Menschen in unserem Land. Jede*r ist zu einem Zeitpunkt angewiesen auf eine gute medizinische Versorgung für die Eltern, für die Kinder oder für sich selbst. Mich betrifft es gerade jetzt. Durch meine kranken Eltern blicke ich ständig in einen (medizinischen) Abgrund, und da wir zum Filmemachen immer auch viel Kraft benötigen, war es mir ein großes Anliegen, meine Kraft in genau diesen Film zu stecken.

Wie haben Sie sichergestellt, dass das Thema Trauma und die Darstellung eines Schockzustands authentisch umgesetzt wurden? Gab es Beratungen mit Experten?
Claudia Thieme: Zu allen Themen, für die Fachwissen vonnöten ist, haben wir Berater*innen. Schon in der Drehbuchphase und auch am Set.

Das Special stellt auch die Frage nach Schuld und Verantwortung. Wie haben Sie diese moralischen Themen dramaturgisch umgesetzt, um sie für die Zuschauer greifbar zu machen?
Claudia Thieme: Wir geben den Begriffen „Schuld und Verantwortung“ durch unsere handelnden Figuren ein Gesicht. Sie variieren diese Themen. Dadurch betten wir sie für die Zuschauer*innen in nachfühlbare Situationen ein und versuchen so, der Komplexität gerecht zu werden.

Wie war die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Florian Gottschick? Welche besonderen Akzente hat er gesetzt?
Claudia Thieme: Bei der Wahl der Regie waren die Redaktion, der Autor und ich uns sofort einig. Florian Gottschick schafft es, uns die Figuren so nahe zu bringen, so dass wir sie nicht nur interessiert betrachten, sondern vielmehr ihren Gefühlen beiwohnen. Zusammen mit seinem Kameramann Lukas Steinbach schafft er eine Atmosphäre, die einen in den Bann zieht und bis zum Schluss nicht loslässt.

Der Film lebt von intensiven schauspielerischen Leistungen, insbesondere von Maria Ketikidou. Wie haben Sie sie und das Team während der fordernden Dreharbeiten unterstützt?
Claudia Thieme: Die Darstellung eines Traumas benötigt Zeit. In der Vorbereitung, aber auch am Set. Und die Arbeit von uns bestand vor allem darin, alle Abläufe so genau zu planen, dass Maria am Set die nötige Zeit hat, sich in die Rolle zu versetzen, sich auszuprobieren und zusammen mit dem Regisseur an den feinsten Nuancen dieser Darstellung zu arbeiten.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

Das «Großstadtrevier»-Special „Im Moment der Angst“ läuft am Montag, den 6. Januar 2024, um 20.15 Uhr.